Kapitel 2.

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„Okay. Könnte länger dauern, sitzt du bequem?", fragt Niklas und sieht mich fragend an. „Ja tue ich. Und jetzt fang an!", zische ich. So wie meine Stimme klingt, könnte man fast denken, ich sei hysterisch. Niklas holt tief Luft und schleudert mir dann folgenden Satz ins Gesicht: „Du bist ein Engel, Leah." Zuerst spüre ich gar nichts. Keine einzige Emotion. Doch dann merke ich, wie mein Magen sich zusammenzieht. Warum kann ich jetzt nicht lachen? Ich habe die Finger ins Gras neben mir gekrallt, ein heftiger Druck liegt auf meiner Brust. Es gibt keine Engel. Diesen Satz wiederhole ich immer und immer wieder in meinem Kopf, doch es lässt nicht nach. Von hinten drückt der wohl größte Beweis für Niklas' Worte auf meinen Rücken. Die Flügel. Weiß strahlen sie in der dunklen Nacht. Anders als Niklas schwarze Flügel, welche in der Dunkelheit fast nicht zu erkennen sind. „Ein Engel?", flüstere ich und starre auf die roten Backsteine unserer Hauswand. Niklas nickt langsam: „Ja. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Es ist kompliziert." Er fährt sich durch seine kurzen Haare, dann legt er die Hände in den Schoß. „Die Welt, die du kennst, ist nur ein kleiner Teil der Erde. Es ist die Welt der Menschen. Menschen ohne spezielle...",er stockt,„Lass es mich so sagen: Begabungen. Neben den Menschen gibt es auf dieser Erde nämlich noch eine andere Spezies - die Übernatürlichen. Deren Welt ist viel größer, denn wir brauchen mehr Platz. Viele von uns sind unsterblich und deshalb..." „Stop!", unterbreche ich ihn hastig und hebe die Hände hoch,„Viele von uns? Du bist übernatürlich? Und was heißt viele? Mehr als normale Menschen?" In meinem Kopf rasen die Gedanken. An meinen Schläfen pocht ein stechender Schmerz. Übernatürliche... Weitere Welten... Wie kann das sein? „Ganz ruhig", sagt Niklas. „Natürlich bin ich übernatürlich, guck dir meinen Rücken an. Und zu deiner anderen Frage, ja. Es gibt mehr Übernatürliche als Menschen. Wie gesagt, durch die Unsterblichkeit muss viel Platz für uns auf dieser Erde sein. Bevor du fragst, nicht alle Übernatürlichen sind unsterblich. Es gibt da Unterschiede. Einige werden unsterblich geboren, andere werden es erst bei ihrer Verwandlung und noch andere werden es gar nicht." Mir ist schlecht. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und atme die Nachtluft ein. Meine Haare kitzeln über die Flügel. Dann sehe ich wieder zu Niklas: „Bin ich unsterblich?" Zitternd gelingt es mir Niklas die Frage zu stellen. Dieser legt den Kopf schief: „Ich weiß es nicht. Könnte sein. Du bist berufen, da weiß man lange nicht, wie sich die Kräfte entwickeln. Es ist schon sehr merkwürdig, dass du dich, so kurz nach deiner Verwandlung, mit deinen Schwingen hinsetzen kannst ohne sie zu spüren." „Weißt du eigentlich, wie unheimlich das alles klingt? Ich meine, du erzählst mir gerade etwas von übernatürlichen Kräften und einer Berufung. Was ist das überhaupt?" Die Fragen purzeln nur so in meinem Kopf herum und ich stelle die erste, die mir in den Sinn kommt. „Die Berufung ist ein Ritual in der ein neuer Übernatürlicher ausgewählt wird. Das passiert alle zehn Jahre. Zehn Übernatürliche werden wahllos ausgewählt und müssen sich dann nach einer geeigneten Person für eine Berufung umsehen. Das geschieht alles zur Vorsorge, denn es besteht große Angst, dass die Übernatürlichen, bis natürlich auf die Unsterblichen, aussterben", erklärt mir Niklas, „Wir haben dann ein paar Monate Zeit, jemanden zu finden und denjenigen auf seine bevorstehende Verwandlung vorzubereiten. Bei der Berufung selbst wird dann entscheiden, welche Art von Übernatürlicher berufen werden soll. Engel oder Dämon." „Engel oder Dämon? Es gibt Dämonen?" ,frage ich entsetzt. Niklas nickt. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Langsam wird es kalt hier draußen. Außerdem werde ich immer müder und es wird schwer, meine Augen offen zu halten. Niklas scheint das zu bemerken: „Das war jetzt ganz schön viel auf einmal, was? Lass uns morgen weiterreden." Da ich erstmal genug Stoff zum Nachdenken habe, willige ich ein. „Warte Niklas. Eine letzte Frage habe ich noch. Du hast gesagt, ich sei berufen. Wer hat mich ausgewählt? Und warum, verdammt nochmal, wurde ich nicht auf die Verwandlung vorbereitet?" Erschrocken zieht Niklas die Augenbrauen hoch. Bilde ich mir das nur ein oder lässt sich da so etwas wie Schuld in seinem Gesicht ablesen? „Niklas?" ,frage ich erneut, diesmal energischer. „Es tut mir so Leid, Leah", flüstert dieser, „Ich habe dich ausgewählt. Aber ich habe das nicht so gewollt, bitte glaub mir das!" Mein Sichtfeld beginnt zu verschwimmen und ich spüre die erste Träne in meinem Augenwinkel. „Du warst das?" Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern. „Du hast mir das angetan?! Du bist Schuld daran, dass ich Flügel auf meinem Rücken habe?!" Jetzt schreie ich, nein ich kreische. Verzweifelt und enttäuscht rapple ich mich auf. Wie kann er mir das antun? Niklas Steiner, der Mann, den ich schon so lange kenne und dem ich schon so lange vertraue. Bis jetzt. Die Tränen fließen mir in Strömen von den Wangen und selbst mein Hals wird nass. Ich wische mir mit der Hand über die Augen, doch es hilft nichts. Immer mehr Tränen kommen. Ich drehe mich von Niklas weg und renne zurück zur Tür. Ich drücke die Klinke nach unten. Niklas ruft mehrfach meinen Namen, doch ich bin schon durch die Tür und die Treppe hochgehastet. Ich komme schwer atmend in meinem Zimmer an und schließe schnell die Tür. Immer noch werde ich von heftigen Schluchzern geschüttelt. Ich lasse mich erschöpft auf mein Bett fallen und schließe die Augen. Die Flügel spüre ich überhaupt nicht. Wie kann das sein? Noch eine Frage mehr, die sich in meinen Kopf brennt. Nie wieder werde ich dieses Zimmer verlassen. Und niemand wird je wieder das Zimmer betreten. Vor allem nicht Niklas. Wie konnte ich mich so in ihm täuschen. Es tut weh, zu erkennen, dass ich ihm fälschlicherweise mein Vertrauen entgegengebracht habe. Auf einmal spüre ich, wie die Müdigkeit Herr über meinen Körper wird und mit dem nächsten Atemzug bin ich eingeschlafen.

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