Kapitel 18.

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Ich wache auf, da mein Handgelenk unter dem provisorischen Verband unaufhörlich brennt. Vorsichtig winde ich mich aus Lukas Armen. Seine Lider zucken unruhig, aber er schläft weiter. Ich setze mich aufrecht hin und streiche ihm langsam über die Wange. Seine Haut ist weich, genau wie die seiner Hand mit der er nach mir tastet. Ich stehe auf und schleiche zur Tür. Vielleicht finde ich unten eine Schmerzlindernde Creme oder etwas ähnliches. Barfuß gehe ich die Treppe runter in das geräumige Wohnzimmer. Das Feuer im Kamin prasselt immer noch. Ich will weiter in die Küche gehen, als sich plötzlich jemand hinter mir räuspert. Ich fahre erschrocken herum und sehe in Karims strahlende Augen. „Kannst du auch nicht schlafen?", fragt er leise. Ich schüttel nur den Kopf. „Ich muss an so viel denken, außerdem wollte ich etwas gegen die Schmerzen suchen", antworte ich und hebe meinen verletzten Arm. „Setz dich, ich hol dir was." Er verlässt mich und geht in die Küche um dort in irgendwelchen Schubladen zu kramen. Ich sinke auf das weiche Sofa und starre in die unruhigen Flammen. Karim kommt kurze Zeit später zurück, in seiner Hand eine weiße Tube und neue Verbände. Er setzt sich neben mich und nimmt behutsam meine Hand. Er legt sie auf seine graue Jogginghose und beginnt den Verband abzuwickeln. Ich zucke zusammen während er die wunde Stelle großzügig mit dem Schmerzmittel einreibt, was unglaublich gut tut. „Danke", sage ich nachdem er mir einen neuen Verband umgewickelt hat. „Kein Problem", lächelt Karim und lehnt sich zurück. „Was passiert jetzt mit ihm?", stelle ich die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge brennt. „Mit Niklas?" Ich nicke und beiße mir auf die Lippe um die Tränen zurückzuhalten. Karim zuckt mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Wir werden abwarten müssen, wie Devon sich entscheidet. Entweder können wir ihn auf einem menschlichen Friedhof beerdigen oder seine Leiche wird verbrannt und Devon entsorgt sie. Das passiert normalerweise wenn ein Übernatürlicher stirbt. Die Bestatter würden sich nur über die Narben auf dem Rücken wundern." Ich schlucke schwer. Ich werde nie Niklas Grab besuchen können und meine Mutter wird sich nie richtig von ihrem besten Freund verabschieden können. „Das ist alles meine Schuld. Meinetwegen hat Lukas sich in Gefahr begeben, deswegen musstet ihr uns retten. Deshalb ist Niklas jetzt tot. Und ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte ihn nicht heilen." Ich ziehe meine Knie an und schlinge meine Arme um meinen Körper. Eine einzelne Träne rinnt über meine Wange und versiegt in meinen Haaren. „Leah, das alles ist nicht deine Schuld. Das darfst du dir nicht einreden. Du hättest Niklas nicht heilen können, das hätte dich schlimmstenfalls getötet. Zwei Seelen in einer Stunde retten, das kann niemand. Und Niklas hätte niemals gewollt, dass du dein Leben für seines gibst, das weiß ich." Beruhigend streicht er mir über den Arm. „Alles wird gut, vertrau mir." Ich weiß nicht warum, aber ich glaube Karims Worten. Vielleicht weil ich es unbedingt glauben will, dass alles gut wird. Dass die Trauer vergeht. „Willst du dich noch ein paar Stunden hinlegen? Gegen sechs wird Devon hier sein und ich weiß aus Erfahrung, dass ein Gespräch mit dem Teufel anstrengend sein kann", sagt Karim und lächelt aufmunternd. Ich will ihn fragen, wie Devon überhaupt ist, ob ich Angst haben muss, doch ich bin so müde, dass ich gähnend aufstehe und beschließe, es morgen selbst herauszufinden und mir ein eigenes Bild von dem Herrscher der Übernatürlichen zu machen. „Danke, Karim", verabschiede ich mich und gehe nach oben. Unser Zimmer ist kalt, deswegen schlüpfe ich schnell ins Bett und kuschel mich unter die warme Decke. „Wo warst du?", nuschelt Lukas neben mir und öffnet schwer seine müden Augen. „Unten. Karim hat mir meinen Verband gewechselt", antworte ich leise und sehe ihn an. Lukas Augen werden schmaler. „Ich mag es nicht, dass er dich so oft anfasst", knurrt er. Er nimmt eine meiner Strähnen zwischen seine Finger und streicht sie von meiner Schulter. Dann drückt er mir einen Kuss in meinen Nacken und zieht mich zurück in seine Arme. Mein Herz macht zwei unkontrollierte Hüpfer. Was ist das zwischen uns? Wie wird es weitergehen? Alles wichtige Fragen, doch ich kann mich nicht mehr konzentrieren und schlafe beim nächsten Atemzug ein.

Es ist noch dunkel als Lukas mich weckt. Er steht in dunkler Jeans und schwarzem Shirt bereits fertig vor dem Bett und rüttelt an meiner Schulter: „Wir müssen runter, Devon wird gleich hier sein und er wartet nicht gerne. Mach dich fertig, ich geh schon mal vor, okay?" Ich nicke mit geschlossenen Augen. Erst als ich die Tür ins Schloss fallen höre, öffne ich sie. Ich ziehe meine Sachen vorm Vortag an. Anschließend binde ich meine Haare zu einem lockeren Zopf und schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Tiefe Augenringe und ein trüber Blick sind im Spiegel zu sehen. Egal, ich kann es eh nicht ändern. Ich höre, wie die große Eingangstür im Wohnzimmer geöffnet wird. Ein letztes Mal hole ich tief Luft, dann folge ich Lukas nach unten. Als ich die Treppe herunter komme, heften sich fünf Augenpaare auf mich. Karim, Lukas, zwei weitere unser Retter und ein Fremder. Das muss er sein. Der Teufel. Ich nehme mir ein paar Sekunden um ihn mir anzusehen. Der junge Mann, ich schätze ihn um die 30, steht neben Karim und ist ein ganzes Stück kleiner als er. Seine schwarzen halblangen Locken umranden sein blasses Gesicht. Die Wangenknochen treten spitz hervor. Er ist schlank und trägt eine schwarze Hose und ein dunkelgrünes Hemd. Trotz seiner tiefschwarzen Augen sieht er nicht gefährlich, nur sehr respekteinflößend aus. Ich gehe die letzten zwei Stufen nach unten und bleibe vor der kleinen Gruppe stehen. „Das ist sie also. Der Engel, dessen Gabe ähnlich wie meine sein soll. Mein Name ist Devon", sagt der Mann und reicht mir seine Hand. Ich schüttel diese und schaue ihm aufrichtig in die Augen. Devon lässt meine Hand los und tritt einen Schritt zurück. Er lässt seine Augen langsam über mich gleiten, dann sagt er: „Dass du besonders bist, ist nicht zu übersehen. So ein intensives Gold ist sogar für die stärksten Übernatürlichen unnatürlich." Ich konzentriere mich um seinen Schatten erkennen zu kennen. Der goldene Schimmer um seine schwarzen Schwingen reicht weit, weiter als die von Lukas und Karim. „Wann hat sie ihre Gabe das erste Mal eingesetzt?" Mir gefällt es nicht, dass Devon über mich in der dritten Person spricht, obwohl ich vor ihm stehe, doch als ich ihm genau das patzig sagen will, ergreift einer der anderen Männer das Wort: „Gestern. Sie hat Lukas König geheilt." „Stimmt es, was Florenzo sagt? Du bist der erste, dem sie ein Stück ihrer Seele gegeben hat?" Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ein Stück meiner Seele... Lukas nickt: „Ja, das stimmt. Sie hat gleichzeitig alle meine Verletzungen geheilt, kein Kratzer ist mehr zu sehen." „Interessant", flüstert Devon und dreht sich zu mir zurück. „Gib mir deine Hände", fordert er und greift nach ihnen. Ich keuche auf, als er seine Finger in meine Wunde legt. Devon betrachtet die Stelle und legt seine Hand auf sie. Gespannt warte ich auf eine nächste Reaktion, doch nichts passiert. Auch die anderen vier starren auf unsere Hände. „Interessant", wiederholt Devon und der Ansatz eines Lächelns legt sich auf seine Lippen. „Ich kann sie nicht heilen. Sie wird also lernen müssen sich zu schützen, ansonsten ist sie das Kostbarste und zugleich das Verletzbarste Geschöpf dieser Erde." Ich verstehe nicht, warum Devon immer noch lächelt und entziehe ihm meine Hände. Augenblicklich erlischt sein Lächeln. „Und was heißt das jetzt genau? Für mich?", frage ich und sehe direkt in seine Augen. „Das bedeutet, dass du bewacht und ausgebildet werden musst. Und wer könnte das besser als dein erster Schützling und dein Hüter?" Devon deutet auf Lukas, welcher überrascht seine Brauen hochzieht. „Ich soll sie ausbilden?", fragt er, „woher weiß ich, wie ich das machen muss?" „Du lehrst sie, sich zu verteidigen. Ich weiß, dass du sämtliche Kampftechniken aus deiner Gangzeit beherrschst. Sieh es als deine Chance, alte Zeiten wieder gut zu machen. Bilde sie aus und ich werde für eine Bestrafung dafür, dass du in eben so einer Bande warst, absehen. Wir alle müssen uns von nun an um sie kümmern. Leah wird es zu etwas Großem bringen. Und wer weiß, vielleicht nimmt sie eines Tages meinen Platz ein." Jetzt reiße auch ich meine Augen auf. Ich soll Devons Platz einnehmen?! Über sämtliche Übernatürliche herrschen? Das kann ich nicht und werde ich niemals können, egal wer mich ausbildet! „Wir werden sehen", erklärt Devon milde und wendet sich an Karim. „Wo ist die Leiche?" Karim führt Devon zum Hintereingang. Ich will ihnen hinterher, denn ich will wissen, was mit Niklas passiert. Lukas hält mich im Flur auf. „Du weißt, was das bedeutet, oder?", fragt er und hält meinen Arm fest. „Was was bedeutet?", frage ich zurück und verrenke meinen Kopf um nach draußen zu Karim sehen zu können. „Dass ich dich ausbilden soll." Jetzt sehe ich doch Lukas an. „Wir werden hart trainieren. Es ist schwer, das alles zu lernen, wenn man nicht seit Geburt an mit dem Kämpfen vertraut ist, so wie ich. Es wartet eine Menge Arbeit auf uns, Leah." „Mit dir als mein Lehrer schaffe ich das, glaub mir." Lukas zieht eine Augenbraue hoch. „Okay. Zuerst werden wir an deiner Reaktionsgeschwindigkeit arbeiten", sagt er und im selben Moment schießt seine geballte Faust nach vorne und bohrt sich in meinen Bauch. „Und ich werde kein Erbarmen mit dir haben, das verspreche ich." Ich keuche und lehne mich an die Wand um besser atmen zu können. „War das jetzt wirklich ein Versprechen..., oder doch eher eine Drohung?", frage ich skeptisch und nach Luft japsend. Lukas rechter Mundwinkel zuckt und er antwortet leise: „Vielleicht von beidem ein bisschen." Er umfasst mit einem schnellen Griff meine Taille und drückt mich noch enger an die Wand. Seine Lippen finden meine sofort. Ich versinke in seinem Kuss und als sich unsere Zungen berühren vergrabe ich meine Hände in seinen wunderbar weichen Haaren. Ich ignoriere das Brennen meiner Hand. Lukas schiebt seine Hände ein Stück unter mein Shirt und fährt langsam an meiner Taille entlang. Am liebsten würde ich diesen Kuss niemals beenden, doch irgendwann löse ich mich von Lukas. Jetzt bin ich nicht mehr die einzige von uns beiden, die schwer atmet. „Ich sollte, äh, zu Devon, weil hm...", stottere ich und streiche mein T-Shirt wieder glatt. Lukas nickt zustimmend: „Ja, du solltest zu ihm gehen. Ich warte dann hier drinnen." Er scheint noch etwas sagen zu wollen, entscheidet sich dann aber um und geht zurück zu Florenzo ins Wohnzimmer. Verdammt, wie soll ich nur mit diesem komplizierten Jungen vernünftig trainieren? Ich muss lernen mich nicht ablenken zu lassen, weder von seinem unnormal gut aussehendem Körper, noch von seinen Blicken. Und das würde ich mit Kylie tun, die hat bestimmt irgendwelche ihrer genialen Tricks, doch als erstes muss ich mich jetzt um Niklas kümmern. Ich laufe in den Garten, wo Karim und Devon mir entgegenkommen. „Was wird mit ihm passieren?", frage ich an Devon gewandt. „Ich habe die Einstichwunde geheilt, ihr könnt ihn mitnehmen und beerdigen, Karim wird einen Bestatter für ihn suchen, der keine unangenehmen Fragen über die Narben stellt." „Danke", sage ich leise und lächel erschöpft. „Ich hoffe du weißt, wie viel Macht du in dir trägst, Mädchen. Nutze sie, aber handle überlegt. Ich werde dich im Blick behalten. Also erlaube dir keine Fehler, sonst werde ich Maßnahmen ergreifen müssen. Wir haben uns verstanden?", fragt Devon ernst und mit einer kalten Stimme. „Ja", piepse ich und habe auf einmal doch Angst vor dem Mann, der vor mir steht. „Gut", sagt Devon, jetzt wieder mit normal klingender Stimme, „Ich werde jetzt gehen. Karim, du bringst sie sicher nach Hause. Ich verlasse mich auf dich. Bis bald, Leah." Ein kräftiger Wind kommt auf und der Teufel erhebt sich in die Luft. Im nächsten Moment ist er verschwunden. „Alles okay?", fragt Karim mich und legt mir beruhigend seine Hand auf meine Schulter. „Ich denke schon, ja", antworte ich. Ich soll mir keine Fehler erlauben und wenn ich doch etwas falsch mache, wird Devon Maßnahmen ergreifen... Was zur Hölle war damit bloß wieder gemeint? „Komm, lass uns reingehen. Es ist eiskalt hier draußen und wenn ich mich nicht täusche, fängt es jeden Moment an zu schneien. Und ich will ungern mit euch durch ein Schneegestöber fliegen. Macht euch fertig, wir treffen uns in zehn Minuten hier in der Küche", fordert Karim und stößt die Hintertür auf. Es ist wirklich noch kälter geworden, so kalt, dass man seinen Atem sehen kann. Ich wasche mir über der Küchenspüle meine Hände und höre, wie jemand den Raum betritt. Ich drehe mich um und taumle sofort einen Schritt zurück. Zu spät realisiere ich, dass hinter mir die Küchenspüle ist, weswegen ich mir unsanft die Ablagefläche in meinen Rücken ramme. Ein „Autsch" rutscht mir raus und ich reibe mit meinem gesunden Arm die Stelle am Rücken. Lukas steht vor mir, immer noch so nah, dass nur ein Daumen zwischen unsere Lippen passt. „Wir müssen reden", sagt er knapp und drückt mich mit einer schnellen Handbewegung auf einen der orangenen Küchenstühle. Verblüfft schnellen meine Augenbrauen in die Höhe. Lukas König will ein Gespräch führen, obwohl das nicht zwingend nötig ist? Ich glaube, ich war noch nie so neugierig wie jetzt. Doch, damals, als unsere Eltern uns sagten, sie hätten ein Geschenk für Lina, Jonah und mich und dann in der Garage, aus dem riesigen in Geschenkpapier eingewickelten Karton, Emmy sprang und schwanzwedelnd durch die gesamte Garage flitzte. Ja, damals war ich auch verdammt neugierig gewesen und eine positive Überraschung hatte auf uns gewartet. Doch Lukas Gesicht sieht weder nach einem Welpen für mich als Geschenk aus, noch positiv. Seine Miene ist ernst. Er zieht einen Stuhl zu sich rüber uns setzt sich mir gegenüber: „Wir müssen das beenden. Das, was auch immer zwischen uns ist. Es würde uns nur ablenken. Dich beim trainieren und mich beim ausbilden. Das... geht nicht mehr." Ich warte auf ein Gefühl, doch da kommt nichts. Ist das sein Ernst? Seinem Tonfall und Gesicht nach zu urteilen, ja. Ich will etwas antworten, doch ich weiß nicht, was. Ich will ihn anschreien, aber meine Stimme ist weg. Lukas fährt sich unruhig durch die Haare. Mit einem bohrenden Blick sieht er mich an. „Dann wäre das geklärt?", fragt er und lässt seinen Blick weiterhin auf mir ruhen. Ich muss mich zusammenreißen um ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. Geklärt?! Geht's noch?? Erst letzte Nacht hatte ich mir eingestanden, dass ich mich in ihn verliebt habe. In seine Blicke, in seine schwierige Art, in seine beschützenden Arme, in alles. Und er? Hat das für ihn nichts bedeutet? Ich hab nie verstanden, warum er mich auf Lias Party geküsst hat und ich hatte es nie wirklich bereut. Doch jetzt schmerzt es mich. Eine Hand schließt sich langsam um mein Herz. Ich schlucke, um wenigstens irgendwie zu reagieren. Lukas senkt den Kopf. Erst jetzt bemerke ich Karim, der zu uns gestoßen ist. „Können wir los? Florenzo und Marc kümmern sich um Niklas Transport." Lukas steht auf und nickt, dann geht er eilig nach draußen. Karim kommt zu mir und kniet sich vor mich. „Kommst du?", fragt er leise und drückt beruhigend meine Hand. „Wie machst du das?", frage ich leise. „Immer wenn du mich berührst, fühle ich mich besser." Karim lächelt leicht. „Das ist meine Kraft. Meine Hände sind magisch, sie verleihen dieses beruhigende Gefühl. Vielleicht ist es aber auch mein Charme." Er zwinkert und steht auf. Wir folgen Lukas nach draußen. Er hat seine Schwingen ausgefahren und steht einfach nur da. Es hat angefangen zu schneien und die weißen Flocken senken sich auf seine schwarzen Flügel. Ich wende mich von ihm ab, denn die Erinnerungen an unseren gemeinsamen ersten Flug kommen in mir hoch. Karim gibt uns ein Zeichen, synchron stoßen wir uns ab und fliegen gen Himmel. Ich kann meine Gefühle nicht länger zurückhalten, stumm fließen heiße Tränen über meine Wangen und vermischen sich mit dem Schnee, der sich auf mich setzt. Ich spüre nicht einmal die Eiseskälte, die hier oben herrscht, ich fühle nichts. Lukas taucht neben mir auf und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch ich komme ihm zuvor. „Verpiss dich, du Arsch", sage ich leise und wundere mich selbst über meine sichere und schneidende Stimme. Auch Lukas ist sichtlich geschockt, doch er sagt nichts. Er legt die Arme an und schießt an mir vorbei. Ich kann nicht sagen wie lange wir fliegen, doch irgendwann fällt es mir schwer, meine Augen offen zu halten. Meine Arme sind schwer und mein Rücken tut höllisch weh. Doch genau in diesem Moment taucht das Wäldchen vor uns auf. Gleich dahinter erahne ich das rote Dach unseres Hauses. Blitzschnell zischen wir zu dritt über die Baumwipfel und landen einige Minuten später auf dem, jetzt schon komplett weißen Rasen in unserem Garten. Ich lasse Lukas und Karim stehen und stürze zur Tür. Es ist mir egal, dass ich vom Schnee durchnässt bin und dass meine Sneaker hässliche Abdrücke auf dem Flur hinterlassen. Ich reiße die Küchentür auf. Emmy ist die erste, die mich bemerkt. Wild bellend rast sie auf mich zu. Ich falle auf die Knie und lasse mir von ihr ihre Hände ablecken. Ich werde nachher den Verband wechseln müssen, er hängt nur noch nass von meinem Gelenk. Meine Mutter springt von ihrem Stuhl und zieht mich hoch in eine feste Umarmung. Das gibt mir den Rest. Ich weine und klammere mich an sie. Mein Vater nimmt meine kalte Hand in seine warme. Nachdem ich auch von Lina und Jonah tränenüberströmt begrüßt wurde, schickt meine Mutter mich unter die Dusche. Ich schleppe mich hoch ins Badezimmer. Aus dem nach hinten gelegenem Fenster sehe ich, wie Lukas sich gerade erneut in die Luft erhebt und Karim auf unsere Tür zu steuert. Mein Blick klebt an Lukas. Gerade will ich mich abwenden, da wirft auch er einen Blick zurück und ich habe das Gefühl, er guckt mir direkt in die Augen. Sekunden später verschluckt ihn die Dunkelheit. Ich schäle mich aus meinen Klamotten und stelle mich vor den Spiegel. Ich bemerke an den Beinen und am Bauch mehrere Blutergüsse und blau-grüne Flecken. Das wird ewig dauern bis die nicht mehr zu sehen sind. Ich steige in die Dusche und lasse das warme Wasser auf meinen kalten Körper prasseln.
Nach einer ausgiebigen Dusche und einem schnellen Überföhnen meiner Haare schlüpfe ich in einen Pulli und Jogginghose und lege mich aufs Bett. Ich bin so erschöpft, dass es nicht lange dauert, bis ich fest eingeschlafen bin.

Black and WhiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt