Kapitel 9.

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„Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche,
die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang;
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub, Lieber, mir: Es war die Nachtigall."

Fließend und ohne zu stocken zitiert Lukas Shakespeare und alle lauschen angestrengt seiner Stimme. Unser Deutschlehrer hat die Augen geschlossen und als Lukas fertig ist, bricht er in Jubelgesang aus: „Das war wunderbar! Hattet ihr Romeo und Julia an deiner alten Schule schon?" Lukas nickt. Dabei fällt ihm eine Strähne in die Stirn und er schiebt sie mit einer schnellen Bewegung zurück in seine perfekt sitzende Frisur. Herr Warmut lobt ihn ausgiebig, dann schickt er ihn auf seinen Platz zurück. Ich beobachte Lukas und versuche seinen Schatten zu erkennen, doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich sehe nichts. Stirnrunzelnd werfe ich Lukas einen Blick zu, in dem Moment sieht er zu mir. Er zieht eine Braue hoch und ich gucke weg, spüre seinen Blick dennoch weiterhin auf mir ruhen. Kylie stößt mich in die Seite und fragt flüsternd: „Was geht eigentlich bei dir und König? Eure heimlichen Blickkontakte sind nämlich überhaupt nicht heimlich, also rück raus mit der Sprache." Ich fühle mich ertappt und raune ihr ein: „Später" zu. Ich sehe mich im Raum um. Hat wohl noch jemand mitbekommen, dass Lukas und ich uns bereits vertrauter sind als mir lieb ist?
Es klingelt und ich werde sofort von Kylie zur Tür gezerrt, ich schaffe es gerade noch mir meine Jacke zu schnappen. Im Flur jedoch werden wir sofort wieder aufgehalten. „Ich muss Leah zwei Minuten entführen, dann kriegst du sie zurück, ja?" Mit seinen langen Wimpern klimpert Lias Kylie zu und zieht an meiner Jacke, damit ich mit ihm mit komme. „Zwei Minuten...", knurrt Kylie und lässt mich gehen. „Heyy!", protestiere ich, „ich bin doch kein Ding, was man hin und her schubsen kann!" Lias guckt mich an und bleibt stehen. „Nein, aber anscheinend bin ich das. Ich bin dein Freund Leah, ich will nicht nur Kontakt mit dir haben, wenn es dir gerade passt." Ich muss schlucken. Ich weiß, dass er „bester" und nicht „fester" Freund meint, trotzdem überrascht mich diese Ausdrucksweise. Meinen letzten richtigen Freund hatte ich in der achten Klasse, doch ich hab die Beziehung bereits nach einem Monat beendet, als der Typ mir bei „Fuck you Goethe" die Hand unters Shirt geschoben hat. Und das mit dem Kontakt halten... „Tut mir Leid", sage ich leise und senke den Kopf. Ich weiß, dass ich Lias in letzter Zeit, vorallem in den letzten Tagen etwas hängen gelassen hab, aber ich weiß nicht ob und wenn ja, wie ich ihm von meiner Übernatürlichkeit erzählen soll. Seine Hand umschließt mein Kinn und hebt es sanft an. „Was ist los mit dir Kleine? Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du." „Es ist gerade alles ziemlich viel, Schule und auch der Umzug und so..." Das war nicht die ganze Wahrheit, denn von unserem anstehenden Umzug in das Traumhaus meiner Eltern merkte man zuhause recht wenig, aber ich bin nicht in der Lage ihm die ganze Geschichte zu erzählen. „Lass uns morgen in die Stadt und einen Kaffee trinken gehen, ja?", schlag ich vor und gucke Lias an. „Machen wir und wenn ihr Hilfe braucht, ich hab unzählige Muskeln, ich schlepp euch die Kartons", sagt Lias und grinst mich an. Ich lächel zurück und hake mich bei ihm unter: „Jaja, unzählige Muskeln."
Bei Kylie angekommen wechsel ich den Arm, verabschiede Lias und beginne zu erzählen:„Alsooo, wir waren ja im Kino und dort ist mir etwas richtig Komisches passiert." Als ich ihr alles erzählt habe, sieht Kylie mich mit großen Augen an. „Dämon", wiederholt sie. „Krass! Und was passiert jetzt? Verbündet ihr euch jetzt und erfüllt irgendwelche Missionen oder sowas?" Ich fange an zu lachen: „Oh nein, mit diesem Typen erfüll ich gar nichts!" Auch Kylie muss lachen, dann sagt sie: „Naja, also heiß ist Lukas auf jeden Fall, vielleicht lässt du dich ja doch auf gewisse Missionen ein, mh?" Empört schlage ich sie auf den Arm und laufe los Richtung Klassenraum. Wir kommen an Lukas vorbei. Ohne dass ich damit gerechnet hätte, zieht er grob an meinem Ärmel und drängt sich so zwischen Kylie und mich. Diese will stehen bleiben, doch die Schülermassen, welche zurück in ihren Unterricht strömen, reißen sie mit sich. „Was?", frage ich genervt. Lukas lässt meinen Ärmel los und verkrampft die Finger, als hätte er gerade eine Kröte oder etwas ähnlich abstoßendes berührt. Wie kann man nur so eingebildet und herablassend sein? Eigentlich will ich ihn genau das fragen, doch da fällt er mir ins Wort: „Wir müssen reden. Jetzt." Was denkt der sich bitte? „Jetzt garantiert nicht, wir haben jetzt nämlich Politik. Nur zur Erinnerung, falls du den Stundenplan noch nicht kennst", antworte ich patzig und will mich wegdrehen. „Ich meine es ernst. Es ist wichtig. Es geht um die Sache im Kino." Jetzt werde ich sofort hellhörig. „Okay. Dann rede." Lukas rollt mit den Augen und wie sooft muss ich feststellen, dass er auch bei dieser arroganten Geste, verdammt gut aussieht. Ob wohl alle Dämonen attraktiv sind? „Nicht hier. Komm mit", befiehlt er und schlägt den Weg zu den Musikräumen ein. Ich folge ihm, denn es interessiert mich brennend was er zu erzählen hat. Lukas öffnet den Instrumentenraum und geht hinein. Natürlich hält er die Tür nicht für mich geöffnet, weswegen ich sie fast ins Gesicht bekomme. Ich schnaube verärgert, doch Lukas reagiert nicht, sondern lehnt sich an eins der Klaviere und beginnt: „Ich hab dir erzählt, dass es einige Übernatürliche gibt, die auf deine Kraft eifersüchtig sind, beziehungsweise die sie für sich nutzen wollen. Niklas hat herausgefunden welcher deiner Neider das im Kino war. Er heißt Gabriel und gehört zu einer Art Bande. Schon vor Jahren ist die Gruppierung aus der Gesellschaft von uns Übernatürlichen verstoßen worden, denn sie jagen Menschen." Er will weiterreden, aber ich unterbreche ihn schnell: „Um was mit ihnen zu tun?" In dem Moment in dem ich die Frage gestellt habe, überlege ich, ob ich die Antwort wirklich hören will. Auch Lukas hält einige Sekunden nachdenklich inne. „Um sie zu töten. Sie spielen mit ihnen. Sie lassen sie miteinander kämpfen, wie damals die Gladiatoren oder jagen sie bis sie vor Erschöpfung verrecken. Aus Spaß, zur Zeitvertreibung." Obwohl mir schlecht ist, erklärt Lukas es, als wäre das eine zwar nicht angesehene, trotzdem relativ normale Angelegenheit. Nur das Blitzen in seinen Augen verrät, dass er an etwas Bestimmtes denken muss. Ich traue mich nicht zu fragen denn unser Verhältnis ist zur Zeit nicht das Beste und so eine Frage garantiert zu persönlich. „Das ist", ich suche nach einem passenden Wort, „abartig." Lukas zieht die Schultern hoch und es wirkt fast so, als wolle er sich entschuldigen. „Die Gruppe hat einige mächtige Mitglieder und wenn es nach ihnen gehen würde, würden die Übernatürlichen die Herrschaft über die Menschen übernehmen oder auf jeden Fall so etwas in der Art", fährt er fort. Klingt für mich wie ein Klischee. „Eins verstehe ich nicht. Wie können sie nach mir suchen, wenn ich doch nicht einmal weiß welche Kraft ich habe? Vielleicht ist mein Schatten wirklich weiß und gar nicht golden?" Lukas schüttelt den Kopf. „Dass du so kurz nach deiner Verwandlung schon einen Schatten hattest ist sehr ungewöhnlich. Dass er sich so schnell gold gefärbt hat ist noch ungewöhnlicher. Außerdem wurdest du zum Engel berufen. Es besteht kein Zweifel daran, dass du eine sehr starke Kraft in dir tragen musst." Ich überlege. Kann ich irgendetwas besonders gut? Ich kann ganz gut Flöte spielen und bin bei meinen Freunden für meine Backkünste angesehen. Doch ich bezweifle, dass von solch einer Kraft die Rede ist. „Was ist denn deine Kraft?", frage ich Lukas. Er wirft mir einen schnellen Blick zu und setzt sich auf den Hocker vor das Klavier. Langsam beginnt er eine Melodie zu spielen. Ruhig und sanft bewegen sich die Töne im Raum. Ich habe das Gefühl, dass mir die Kinnlade runter geklappt ist, deswegen beiße ich fest die Zähne aufeinander. Wie kann ein solcher Idiot wie er nur so wunderschön Klavier spielen können? Reiß dich zusammen Leah! Er spielt weiter und ohne aufzusehen sagt er: „Wir normalen Übernatürlichen haben keine besondere Kraft. Ich bin stärker als andere in meinem Alter und ich kann in Gefühle eingreifen und sie verändern oder hervorrufen. Ich konzentriere mich und sende dir zum Beispiel das Gefühl Nervosität..." Auf einmal spüre ich ein Kribbeln in meinen Fingern und ein Schaudern im Nacken. Ich bekomme Gänsehaut. „Hör auf damit!", sage ich wütend. Lukas lacht nur spöttisch. Ich kreuze die Arme vor der Brust. „Wie finde ich meine Kraft heraus?" „Du wirst es irgendwann merken. Doch auch wenn du sie noch nicht weißt bist du ein gefundenes Fressen für einige. Wir müssen aufpassen." „Wir?", frage ich, „Und kannst du mal aufhören mit diesem Geklimper? Ich kann mich nicht konzentrieren." Das stimmt, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass die Musik mich beruhigt und so wunderschön klingt. Lukas knallt den Deckel auf die Tasten und schiebt den Hocker mit einem hässlichen Geräusch auf dem Boden nach hinten und steht auf. Seine Jeans ist verrutscht und mein Blick fällt, ohne dass ich es verhindern kann, auf den Bund seiner Shorts und den Ansatz seiner enorm ausgeprägten V-Linie. Hastig gucke ich wieder hoch und hoffe, dass er mein Starren nicht bemerkt hat. „Ja wir. Ich bin dein Ersatz - Hüter, in der Zeit, in der Niklas nicht auf dich aufpassen kann." „Ich kann auf mich aufpassen!", sage ich empört und lasse meine Arme sinken. Dabei versetze ich der neben mir stehenden Gitarre einen Stoß und mache einen Schritt zur Seite um sie festzuhalten. Ich gerate ins Straucheln und Lukas streckt schnell seinen Arm aus um mich festzuhalten. „Ich merks", sagt er leise und lässt mich langsam wieder los. Dort, wo vor noch ein paar Sekunden seine Hand war, kribbelt meine Haut. Ich gucke hoch und fange dabei seinen Blick ein. Mit seinen braunen Augen durchbohrt er mich, ich habe das Gefühl, als könne er mich lesen wie ein offenes Buch. Es wäre so einfach wegzusehen, doch etwas hält mich zurück. Ich blinzle ein Mal und drehe mich weg um aus dem Raum zu entkommen.
Eilig mache ich mich auf den Weg zum Klassenraum. Dort angekommen klopfe ich vorsichtig an die blau lackierte Tür. Markus öffnet sie und alle Blicke schnellen zu mir. „Und du warst wo?", fragt mein Politiklehrer, sichtlich genervt. „Ich hatte auf einmal so  Kopfschmerzen und musste kurz raus. Tut mir Leid", murmle ich und ziehe an meinem Pulli. Er nickt mit dem Kopf in Richtung meines Platzes und ich husche zu Kylie. Erst jetzt bemerke ich die Uhrzeit. Lukas und ich waren eine halbe Stunde lang in dem Raum! Das kam mir gar nicht so lange vor, liegt wahrscheinlich daran, dass ich in der Zeit wieder so viel erzählt bekommen habe. Zum Beispiel, dass es in unserer Welt Menschenfressende Dämonen gibt, dass ich von eben diesen Dämonen gesucht werde und dass Lukas gesagt hat, dass ‚wir' auf mich aufpassen müssen. Ich will das Gefühl bei dem Gedanken an Lukas verdrängen, doch ich schaffe es nicht. In seiner Gegenwart fühle ich mich irgendwie sicher. Auch wenn er über mich herzieht wann immer sich ihm eine Gelegenheit dazu bietet. Ob er das beabsichtigt? Schließlich hat er mir gerade noch demonstriert, wie er meine Gefühle beeinflussen kann. Aber dieses Gefühl von Sicherheit fühlt sich anders an. So intensiv und echt. Ich seufze und konzentriere mich auf die krächzende Stimme meines Lehrers.

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