Kapitel 15.

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„Wir müssen los. Mach dich fertig, wir treffen uns in zehn Minuten unten." Ich lasse die Augen geschlossen und höre, wie Lukas Schritte sich entfernen. Erst als ich seine Sohlen auf der Treppe quietschen höre, schlage ich die Augen auf. Ich weiß nicht wie spät es ist, aber es muss noch sehr früh sein, denn es ist stockdunkel draußen, sogar der Mond scheint noch. Müde und langsam schäle ich mich aus dem Bett. Noch im Halbschlaf tapse ich ins Badezimmer, wo ich mir meine Klamotten von gestern anziehe, die immer noch hier liegen. Lukas Sachen lege ich auf den Badewannenrand. Als ich einen Blick in den Spiegel werfe, weiche ich beinahe erschrocken zurück. Schwarze Ränder sind unter meinen Augen zu sehen und die Mascara klebt mir noch vereinzelt in den Wimpern. Ich klatsche mir Wasser ins Gesicht und versuche, die Schminke so gut es geht abzuwaschen. Zufrieden bin ich mit meinem Ergebnis nicht, aber das muss reichen. Ich kämme mir mit einer Bürste, die auf einer der Kommoden liegt, meine Haare und binde sie zusammen. Anschließend gehe ich runter in die Küche. Lukas reicht mir eine Tasse. Auch er sieht müde aus, zugleich wirkt er angespannt und gestresst. Er trägt eine schwarze Jeans und einen grauen Pulli. „Ich hab deinen Pullover noch bei mir", fällt mir ein. Lukas nickt abwesend. Es scheint ihn nicht groß zu vermissen. Ich trinke einen Schluck und verbrenne mir fast die Zunge an dem brühend heißen Kaffee. Lukas guckt mich vorwurfsvoll an und stellt seine eigene Tasse ins Spülbecken. „Bist du fertig? Wir müssen los, sonst kommen wir zu spät", drängt er. Niklas ist doch selbst nie pünktlich, warum müssen wir dann auf die Sekunde genau sein?
Eine Viertelstunde und eine Diskussion später, schließt Lukas die Tür hinter sich ab. „Machen wir wieder dieses Zeug, wo du meine Hände nimmst und uns irgendwohin katapultierst?" Ich hoffe nicht, denn davon wird mir schlecht. „Nein dafür ist die Entfernung zu groß. Ich würde es schaffen, aber du als Unerfahrene könntest dabei verloren gehen. Wir fliegen." „Ich bin nicht unerfahren", fauche ich und fahre meine Schwingen aus. So langsam klappt das schon, ohne dass ich mich dafür konzentrieren muss. „Folg mir einfach, okay? Und versuch die Arme an deinem Körper zu lassen, dann bist du schneller!" Mit diesen Worten stößt Lukas sich vom Boden ab und schießt los. Ich mache es ihm nach. Das Adrenalin pumpt durch meinen Körper, immer schneller gleiten Lukas und ich durch die Luft. Ich muss grinsen, so ein unbeschreibliches Gefühl ist es, hier oben zu sein. Also das mit dem Fliegen ist dann doch ganz praktisch an der Engel-Sache. Ich spüre mein Körpergewicht nicht mehr, nur noch meine Geschwindigkeit, die jede Sekunde schneller wird. Lukas dreht seinen Kopf zu mir und sein linker Mundwinkel zuckt nach oben. Ich könnte endlos so weitermachen, doch Lukas deutet mit einer Kopfbewegung nach unten. Ähm, wie bremst man? Panik keimt in mir auf. Wie halte ich an, beziehungsweise gelange zurück auf den Boden? Lukas bemerkt meine Nervosität und nimmt meine Hand, welche sofort anfängt zu kribbeln. Er zieht mich runter und ich lande ohne zu wanken neben ihm. Ich sehe mich um. Wir sind hier sozusagen im Nichts. Eine einzige Lagerhalle, zumindest sieht das Gebäude wie eine aus, erstreckt sich vor uns. Sonst ist hier nur eine asphaltierte Straße und vereinzelt ein paar Büsche auf dem dürren Sandboden. Der Ort kommt mir nicht bekannt vor, erinnert mich trotzdem an eine Gegend aus einem Westernfilm. Ob wir noch in Deutschland sind? Wahrscheinlich nicht. Bevor ich Lukas danach fragen kann, nimmt dieser grob meinen Arm und zieht mich zu der Lagerhalle. Widerwillig ramme ich meine Sneaker in den Boden und bleibe stehen. „Wo sind wir? Und wo ist Niklas?", frage ich und schubse seine Hand weg, die wieder nach meinem Arm greifen will. „Warum stellst du immer so viele Fragen? Mach doch einfach mal, was man dir sagt!", antwortet Lukas. Dabei sieht er mich nicht an, sondern guckt unruhig zum Tor, das ins Innere der Halle führt. Entschlossen lege ich meine Hand an seine Wange und drehe seinen Kopf zu mir. Jetzt muss er mir in die Augen sehen. „Wo gehen wir hin? Wen treffen wir da drin?", frage ich nochmal. Das Gefühl, dass nicht Niklas Steiner uns erwartet, verstärkt sich zunehmend, doch ich versuche ruhig zu bleiben. Lukas nimmt meine Hand von seiner Wange und hält sie fest. „Vertrau mir einfach, okay?", bittet er und sieht mich durchdringend an. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, deshalb nicke ich. Dann gehen wir gemeinsam auf das Tor zu. Lukas schiebt die Tür zur Seite. Vor uns ist es schwarz. Nichts ist zu erkennen, Dunkelheit umgibt uns. Soll ich wirklich da rein gehen? Passieren kann mir eigentlich nichts, solange ich bei Lukas bleibe. Dieser tritt über die Türschwelle und wird eins mit der Dunkelheit und der gespenstischen Stille. Ich folge blind dem Klang von seinen Schritten doch auf einmal werden sie leiser und verstummen dann ganz. Wo ist er? „Lukas?", zische ich, „Lass den Scheiß, komm wieder her. Lukas...!" Keine Antwort. Angsterfüllt taste ich mich an der kalten Steinwand weiter vor. Plötzlich höre ich ein Geräusch, nein, eher eine Melodie. Klavierspiel. Genau die Akkorde, die Lukas mir schonmal vorgespielt hat, im Musikraum in der Schule. Ich beeile mich, um zu der Musik und hoffentlich auch zu Lukas zu gelangen. Ich öffne eine schwere Tür und komme in einen zweiten Raum. Dieser wird durch eine spärliche Deckenlampe beleuchtet. Im Zentrum steht ein schwarzer geöffneter Flügel. Lukas sitzt davor auf einem Hocker und spielt. Leise und ruhig und irgendwie traurig, aber schön. Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. Ich will ihn anbrüllen, warum er mich einfach alleine lässt, aber ich kriege kein Wort heraus, so vertieft bin ich in die Musik. Erst jetzt bemerkt Lukas mich. Das Klavier verstummt. Langsam steht er auf und kommt auf mich zu. Erst ein paar Zentimeter vor mir bleibt er stehen. Er hebt seine Hand und streicht mir über die Wange. Eine kleine, aber doch so intensive Berührung. Ich lehne meinen Kopf an seine Hand. Es gibt so viel zu klären, so viele Fragen, doch ich kann nur vor ihm stehen, meinen Kopf in seiner Hand gebettet. Alles in mir will sich an ihn drücken, seine Lippen auf meinen spüren und ihm diese eine verfluchte Strähne, die in seiner Stirn hängt, wegstreichen. Sein Mund nähert sich meinem, vorsichtig. Es kommt mir ewig vor, bis ich endlich seinen Kuss auf meinen Lippen schmecke. Er legt seine Rechte in meinen Nacken, mit der Linken umfasst er meine Taille. Der Kuss dauert nur ein paar Sekunden, dann löst Lukas sich wieder von mir. Ich öffne den Mund, bereit um ihn dieses Mal sofort auf die Bedeutung anzusprechen, aber er legt seinen Finger auf meine Lippen. „Es tut mir Leid", flüstert Lukas. Seine Augen glänzen, seine Schultern hängen schlaff herunter. Ich verstehe gar nichts. Was tut ihm Leid? Der Kuss? Das ergibt alles keinen Sinn. In meinen Gedanken habe ich die Frage schon formuliert, doch ich komme nicht dazu, sie zu stellen. Ein Dritter hat den Raum betreten. Und dieser jemand klatscht. Mein Blick schnellt zu Lukas. Er hält den Kopf gesenkt, ihn scheint der Besucher nicht zu überraschen. „Wie rührend! Wie emotional! Wie... erbärmlich", ertönt eine dunkle männliche Stimme aus Richtung der Tür. „Hätte nicht gedacht, dass du doch zu etwas zu gebrauchen bist. Aber das muss ich dir lassen, deine Rolle hast du gut rüber gebracht." Moment mal, welche Rolle? Wer ist dieser Mann? Und warum sagt Lukas nichts? Die Gestalt bewegt sich auf uns zu, erst als sie im Licht steht, kann ich sie richtig sehen. Ein Mann, Anfang vierzig. Er ist groß, hat braune Haare und eisblaue Augen. Dieselben Augen, die mich damals verfolgt haben, als ich nach Hause gefahren bin. Diese Augen würde ich überall wieder erkennen. Und jetzt steht mein Angreifer persönlich vor mir und lächelt spöttisch auf mich herab. „Leah... Das Engelsmädchen mit dem goldenen Schatten. Endlich bist du hier", sagt der Mann und legt die Fingerspitzen aneinander. „Ich bin Gabriel. Dein größter... Bewunderer." Ich glaube ihm kein Wort. Gabriel schnalzt mit der Zunge und guckt dann zu Lukas. „Du warst mir eine große Hilfe. Aber jetzt habe ich für dich keine Verwendung mehr. Ich hoffe du verstehst das, mein Sohn." Mein Sohn. Das lässt mir mein Blut in den Adern gefrieren. Vor mir steht Lukas Vater, von dem Lukas behauptet hat, er würde ihn so hassen. Und doch hat er ihm geholfen. Nur verstehe ich noch nicht genau, wobei. „Schafft ihn weg", befiehlt Gabriel kalt. Zwei Männer schießen aus dem Nichts auf uns zu und packen Lukas an den Seiten. Erst jetzt erwacht Lukas aus seiner Starre. „Wenn du ihr etwas tust, bringe ich dich um. Lass sie in Ruhe. Nimm mich und lass sie gehen!", schreit er wütend und versucht sich gegen seine Angreifer zu wehren, jedoch erfolglos. „Wie heldenhaft von dir. Aber was soll ich mit dir? Ich will sie", antwortet Gabriel. „Wusstest du, Leah, dass du meinem Sohn zu verdanken hast, dass du jetzt hier bist? Er hat sich dazu bereit erklärt, dich mir zu bringen, damit ich deine Macht für meine Zwecke nutzen kann. Ich glaube, das nennt man ‚Vaterliebe'..." Nein. Nein, das kann nicht sein. Doch ein Blick zu Lukas zeigt mir, dass es stimmt, was Gabriel sagt. Er kann mich nicht ansehen, meidet Blickkontakt. „Du hast gesagt, ich soll dir vertrauen. Und ich war dumm genug, das zu tun... Ich hasse dich", flüstere ich mit Tränenerstickter Stimme. Der Kloß in meinem Hals nimmt mir die Luft zum Atmen. Ein Schmerz breitet sich in mir aus. Wie konnte ich nur auf Lukas reinfallen. „Oh Liebes. Wein doch nicht. Er war schon immer missraten", spottet Gabriel. Er nimmt meine Hand und tätschelt sie. Ich will sie ihm wegziehen, doch er verstärkt seinen Griff. „Lassen sie mich los", zische ich und trete nach ihm, aber er weicht geschickt aus. „Nein. Ich stelle hier die Forderungen, nicht umgekehrt. Du wirst mitkommen und alles tun, was ich dir sage. Ansonsten werde ich deine Familie auslöschen. Jeden einzelnen werde ich quälen. Das willst du doch nicht, oder?" Zitternd schüttel ich den Kopf. Meine Knie sind weich, ich kippe gleich um. „Gehen wir", entscheidet Gabriel. Er packt mein Handgelenk und fährt seine riesigen Schwingen aus. Ein grauer Schatten umgibt ihn. „Stellt den Jungen ruhig", befiehlt er, dann zieht er mich hinter sich her. Ich höre einen dumpfen Schlag und ein Keuchen, Lukas stöhnt vor Schmerz. Ich will mich nicht umdrehen, will Lukas nicht sehen doch ich sehe trotzdem zurück. Gekrümmt liegt Lukas auf dem Boden, die beiden Männer hieven ihn hoch und folgen uns. Ich will zu Lukas, will ihm helfen, aber ich weiß, dass Gabriel mich nicht lässt. Außerdem ist es Lukas Schuld, dass wir überhaupt hier sind. Gabriel zieht mich an sich und ich verliere den Boden unten den Füßen. Alles dreht sich und ich beiße mir auf die Lippen, um nicht loszuschreien. Wieder einmal verschwimmt die Umgebung vor meinen Augen.

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