Der Geruch von totem Tier hängt in der Luft, für einen Vegetarier wie mich nicht ganz so angenehm. Aber auch Alexandra und ein paar andere Mitschüler tuen sich schwer damit, das vor ihnen liegende Schweineherz zu sizieren. Neben mir stochern Kylie und Mia in der Sizierschale rum. Widerlich. „Du siehst nicht wirklich glücklich aus, Kleine", höre ich Lias Stimme hinter mir. Lias ist mein bester Freund. Ungefähr so wie Kylie. Nur in männlich. „Das Ding ist tot!", antworte ich etwas gereizt, obwohl Lias da ja wirklich nichts für kann. „Und nenn mich nicht immer Kleine. So klein bin ich nämlich gar nicht", füge ich noch hinzu. „Ekelig wäre es erst, wenn das Schwein noch leben würde", lacht Lias. Anders als die meisten Jungs aus unserer Klasse hat Lias immer noch seine helle Stimme. Sie klingt nicht kindlich, aber jünger als die anderer 16-Jähriger. Er pikst mich spielerisch in den Bauch: „Und Kleine nenn ich dich, wann immer ich will. Du Zwerg." Es stimmt schon, dass ich unter 1,70cm groß bin und nicht Alexandras oder Kylies lange Beine habe, aber mich als Zwerg zu beleidigen geht zu weit. Ich stehe auf und stemme die Hände in die Hüften. „Siehst du?", fragt Lias lächelnd und zeigt mithilfe seiner Arme den Größenunterschied zwischen uns beiden. Mehr als zehn Zentimeter. „Pff..." Ich lasse ihn stehen und gehe zurück zu Mia und Kylie. „Ich hab die Rasierklinge abgebrochen. Herr Lohmann holt gerade neue", kichert Kylie. Ich verdrehe die Augen. Neben mir fällt ein Stift zu Boden und ich bücke mich, um ihn aufzuheben. Als ich mich wieder aufrichten will, fährt ein stechender Schmerz durch meinen Rücken. Erschrocken lasse ich den Stift los und sinke vornüber auf die Knie. „Alles okay?", fragt Kylie und ist sofort an meiner Seite. „Ahh", keuche ich, „Mein Rücken..." Der Schmerz wird stärker und ich kralle mich in Kylies Shirt. „Kann das einfach so passieren? Dass mit den... Du weißt schon was?", fragt sie flüsternd. Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich allein hätte die Kontrolle darüber, wann es passiert, aber vielleicht habe ich mich da getäuscht. Ich versuche ruhig zu atmen und den Schmerz zurück zu drängen. Kylie streicht mir über meinen Arm. Sie guckt mich fragend an: „Geht es?" Ich nicke und lasse mich von ihr auf die Beine ziehen, dann schwanke ich zu meinem Platz. So schnell wie der Schmerz gekommen ist, ist er wieder vorbei. Im nächsten Moment geht die Tür auf und Herr Lohmann betritt den Raum. Doch er ist nicht allein, hinter ihm steht ein großer Junge, der gelangweilt in den Raum guckt. Neben mir stößt Alexandra mich aufgeregt an: „Leah? Kneif mich mal. Junge sieht der gut aus." Ich weiß natürlich, dass sie das nicht ernst meint, trotzdem zwicke ich ihr ins Bein. Ein Quieken ist zu hören und ich unterdrücke ein Lachen. Ein Raunen geht durch die Klasse, als jetzt alle bemerken, dass Herr Lohmann jemanden mitgebracht hat. „Leute? Hört mal kurz zu. Wir haben einen neuen Mitschüler. Er ist vor Kurzem hier her gezogen und ist deswegen jetzt mitten im Schuljahr gewechselt. Möchtest du dich vielleicht kurz deiner neuen Klasse vorstellen?" Der junge Lehrer guckt den Neuen freundlich an, aber dieser lässt seinen Blick immer noch durch die Klasse schweifen. Sucht er jemanden? Ich überlege noch, wonach er wohl Ausschau hält, als er mit einer rauen Stimme anfängt zu sprechen: „Ich bin Lukas König und bin 16 Jahre alt. Ich bin vor einer Woche hierher gezogen." Sein Blick wandert immer noch durch die Reihen, doch plötzlich habe ich das Gefühl, dass er genau bei mir stehen bleibt und mich direkt ansieht. Ich blinzle und wende den Kopf zur Seite. Vorsichtig gucke ich wieder zurück. Lukas hat den Kopf gesenkt und starrt seine Hände an. Wahrscheinlich habe ich mir das gerade nur eingebildet. Leah, du phantasierst. Herr Lohmann nickt und sagt: „Nun ja, ich denke wir werden im Laufe der nächsten Wochen noch mehr über dich erfahren. Setz dich doch bitte. Okay, wer braucht jetzt noch Rasierklingen?" Lukas schlendert zu einem freien Platz und Herr Lohmann verteilt die mitgebrachten Messer. Ich beobachte Lukas, wie er seinen Rucksack von der Schulter rutschen lässt und sich auf den Stuhl setzt. Ich muss Alexandra Recht geben. Lukas König sieht gut aus. Richtig gut. Er ist groß, ich schätze größer als 1,80m. Unter seinem weiten T-Shirt kann ich die muskulösen Arme ausmachen. Lukas volle dunkel blonde Haare hat er hochgestylt, so bringen sie sein markantes Gesicht perfekt zur Geltung. Hab ich das gerade wirklich gedacht? Dass Lukas ein perfektes Gesicht hat? Ja, hab ich. Ich ermahne mich in Gedanken selber, kann aber nicht aufhören ihn anzustarren. Er dreht sich um und fängt meinen Blick ein. Wie kann man so braune Augen haben? Seine Augen funkeln und lassen seine Erscheinung irgendwie gefährlich wirken. Ich reiße meinen Blick los und konzentriere mich auf mein Biobuch, doch ich spüre noch immer, dass Lukas mich anguckt. Kann der nicht woanders hingucken? Okay, ich hab ihn gerade angestarrt, aber bestimmt nicht so unverhohlen wie er jetzt mich.
Die Stunde kommt mir endlos vor und als es endlich klingelt flüchte ich aus dem Klassenraum ohne auf Kylie, Mia und Alexandra zu warten. Ich stolpere die Treppenstufen hinunter und bringe meine Sachen zum nächsten Unterrichtsraum. Dort angekommen lehne ich müde meinen Kopf gegen die Wand. „Du stehst im Weg." Ich sehe hoch. Nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt leuchten Lukas Augen mir entgegen. Mir fällt auf, dass selbst seine Augenbrauen wie gemalt aussehen. Er runzelt die Stirn. „Sorry", stammle ich und trete zurück, um ihn vorbei zu lassen, doch er bleibt stehen. Abwertend mustert er mich. „Wie heißt du?" Die Frage kommt unerwartet. „Leah", sage ich und strecke das Kinn vor. Denkt er etwa, er wäre was Besseres, nur weil er verboten gut aussieht und ein paar Zentimeter größer ist? Falsch gedacht. Niemand redet in so einem herablassenden Tonfall mit mir. „Leah...", wiederholt er langsam. Aus irgendeinem Grund klingt es aus seinem Mund bedrohlich. Stimmen werden laut und Schüler drängen sich an uns vorbei. „Man sieht sich", sagt Lukas und schließt sich der Gruppe der davongehenden Leuten an. Was war das denn jetzt? Ich richte meinen Schal und mache mich auf die Suche nach Kylie. Herr Lohmann kommt mir entgegen. „Leah?", fragt er und ich bleibe stehen. „Dürfte ich dich bitten, dich ein bisschen um Lukas zu kümmern? Er ist 16 Jahre alt, das Meiste wird er alleine hinbekommen, aber wenn er Fragen hat, oder Anfangs die Räume nicht findet, würdest du ihm dann bitte ein wenig helfen?" Warum muss er sich ausgerechnet mich raussuchen? Trotzdem antworte ich, dass er sich auf mich verlassen kann und ich Lukas helfen werde. Es klingelt. Ich gehe zum Raum zurück. „Wo warst du? Wir haben dich gesucht!", begrüßt Kylie mich. Ich greife nach meinem Rucksack und schultere ihn. „Lohmann hat mich aufgehalten. Er will, dass ich mich um Lukas kümmere. Als ob der das nicht alleine kann", sage ich und verdrehe die Augen. „Viel Spaß, haha. Aber er sieht gut aus, das muss man ihm lassen. Bisschen eingebildet, findest du nicht auch?" Kylie legt die Stirn in Falten. Ich finde, Lukas wirkt eher distanziert als eingebildet, aber ich nicke zustimmend und gehe zu meinem Platz am Fenster. „Good morning, Boys and Girls! Oh, a new face! What's your name, darling?" Frau Wernecke baut sich vor Lukas auf und schiebt ihre Brille zurück auf die Nase. Die rundliche ältere Frau hat etwas von einem Drachen, wie sie da mit raus gestreckter Brust vor Lukas steht. Ich wende mich ab und lasse meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Der Unterricht rauscht an mir vorbei, innerhalb kürzester Zeit, zumindest kommt es mir so vor, ist die Stunde vorbei. Auch die restlichen Stunden bringe ich hinter mich. Nach dem Klingeln verabschiede ich mich von den Mädchen und laufe mit Lias zum Fahrradständer. „Was hälst du von dem Neuen?" Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab mich noch nicht wirklich mit ihm unterhalten, vielleicht ist er ganz nett." „Ne", schnaubt Lias, „Guck dir den doch mal an! Der ist bestimmt aus irgendeinem Modemagazin entlaufen oder wurde früher zu heiß gebadet." Belustigt sehe ich Lias an: „Bist du eifersüchtig?" „Auf Lukas? Nein. Ganz bestimmt nicht." Lias lacht und zieht mich in eine Umarmung. „Bis morgen Kleine." Er schwingt sich auf sein Rad, winkt mir ein letztes Mal zu und fährt weg. Ich schließe mein Fahrrad auf und mache mich auf den Weg zur Buchhandlung.„Van Beek. Mit zwei e", erkläre ich der Buchhändlerin zum zweiten Mal. „Ach ja. Hier haben wir es. Drei Bücher richtig? Einen Moment, ich hole sie aus dem Lager." Mit schnellen Schritten stöckelt sie an mir vorbei und verschwindet im Lagerraum des Geschäfts. Ich nutze die Zeit und schlendere im Laden herum. „Ich hab ja gesagt man sieht sich." Erschrocken fahre ich herum. Lukas steht vor mir, beide Händen in den Taschen seiner Jeans. „Was machst du denn hier?", frage ich. Lukas zieht eine Augenbraue hoch. „Bücher kaufen, was sonst? Gehst du nicht in eine Buchhandlung um Bücher zu kaufen?" Nervös knacke ich mit meinen Fingern. Doch, natürlich. Was für eine blöde Frage. „Doch, klar. Also... Ja", stottere ich. Verdammt. Warum kann ich nicht vernünftig reden wenn er vor mir steht? Ich streiche mir eine Strähne aus der Stirn. „War nett dich zu treffen, aber ich muss jetzt auch weiter." Dieses Mal klingt meine Stimme schon viel sicherer. Lukas nickt. Ich warte auf noch eine Reaktion von ihm, aber er bleibt stehen und sagt nichts. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die Buchhändlerin aus dem Lagerraum tritt. Ohne ein weiteres Wort an Lukas gehe ich zu ihr und bezahle. Als ich mich beim Verlassen des Ladens umdrehe, kann ich Lukas im ganzen Laden nicht entdecken. Ich schüttel den Kopf, packe die Bücher in meinen Rucksack und fahre nach Hause.
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Black and White
Teen FictionStell dir vor, an deinem 16. Geburtstag fängt dein Körper an sich zu verändern. Unmenschliche Flügel wachsen aus deinem Rücken. Und plötzlich musst du dein Leben als Engel weiterführen, ohne je darauf vorbereitet worden zu sein. Und als wenn das ni...