Kapitel 13.

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Die nächste Woche kommt Lukas nicht zur Schule. In den ersten Tagen kümmert es mich nicht groß, doch am Freitag fange ich an, mich zu fragen, wo er steckt. Ich will es mir selbst nicht eingestehen, doch ich mache mir Sorgen. Sollte er nicht da sein, um sehen zu können, was ich mache und wie es mir geht? Er scheint seine Rolle als Hüter nicht wirklich ernst zu nehmen. Wahrscheinlich bin ich ihm zu langweilig oder er hatte einfach keinen Bock mehr. Ich tendiere zu einer Mischung aus beidem. Lias holt mich aus meinen Gedanken zurück, da er an meinem Arm rüttelt. „Hallooo? Was ist jetzt?", fragt er mit einem Strahlen im Gesicht. Shit, was hat er gesagt? „Ähm...", stottere ich, „kannst du das nochmal wiederholen?" Lias verdreht die Augen. „Ich hab gefragt, ob du heute Abend zu mir kommst. Mein Dad ist unterwegs und ich habe ein paar Leute eingeladen. Ist nicht so eine Riesen-Party, nur ein paar Leute. Kommst du?" Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Lust auf Feiern, aber da ich ein schlechtes Gewissen Lias gegenüber habe, willige ich ein. Seit mein Leben sich in einer Nacht brutal verändert hat, habe ich unsere Freundschaft vernachlässigt, das weiß ich. „Wie spät denn?", frage ich und lächle. „Ab acht kannst du kommen", antwortet Lias und grinst. „Nicht früher, ich brauch die Zeit um aufzuräumen." „Ich kann dir auch helfen", lenke ich ein, doch Lias lehnt ab. „Sei um acht da, dann passt das. Bis später, Kleine!", ruft er mir zu und verschwindet mit dem Klingeln aus dem Klassenraum. Ich mache mit Kylie aus, dass sie mich um viertel vor acht abholt, und wir anschließend zusammen zu Lias fahren.
Auf dem Weg nach Hause fahre ich, wie eigentlich immer, durch den Wald. Der Weg ist zwar holprig und uneben, doch hier fahren keine Autos und die Strecke ist perfekt um mal allein zu sein. Doch heute ist es irgendwie anders. Ich bin gerade in den Weg eingebogen, da überkommt mich ein mulmiges Gefühl, als wenn ich beobachtet werden würde. Ich schaue mich um und fahre schneller, doch das Gefühl bleibt. Der Weg scheint endlos, fast denke ich, ich fahre auf der Stelle. Ich konzentriere mich und klappe die Schwingen aus, dann schieße ich in unnormaler Geschwindigkeit den Weg entlang. Plötzlich zischt etwas an mir vorbei, ein riesiger Windstoß kommt auf und zerrt an mir. Ich kriege Panik und schlage noch heftiger mit den Schwingen. Wieder zischt etwas, dieses Mal links von mir und das Etwas packt mich an der Seite. Auf einmal kann ich eine Gestalt erkennen, zwei Augen blitzen eisblau vor mir auf. Ich hatte es erwartet, trotzdem verstärkt sich meine Angst. Die gewaltigen dunklen Flügel des Mannes ragen hoch über meinen. Ich schlage um mich, verliere die Kontrolle über mein Rad und überschlage mich. Ich richte mich auf und sehe mich um, doch der Waldweg ist leer. Auch das Gefühl nicht allein zu sein, ist verschwunden. Immer noch sitzt mir die Angst in den Knochen und ich zittere extrem, als ich wieder auf mein Fahrrad steige und nach Hause fahre. Dort angekommen renne ich die Treppe hoch, schmeiße meinen Rucksack in eine Ecke, hechte auf mein Bett und ziehe die Knie an. Ich schaukel mich selbst vor und zurück, doch das erhoffte Gefühl der Beruhigung bleibt aus. Tränen brennen in meinen Augen. Wer war das? Und was wollte er von mir? Und war er der selbe wie die Gestalt, die ich bei der Hausbesichtigung gesehen habe? Ich kann die Tränen nicht mehr halten, sie fließen einfach meine Wangen hinab. Ich berge mein Gesicht in den Händen. Eine knappe Viertelstunde später sind alle Tränen geweint. Ein tiefes Seufzen dringt aus meiner Kehle. Ich wische mit dem Handrücken die Tränenschlieren ab und stehe vom Bett auf. Dann gehe ich ins Bad, wasche mir mein Gesicht und binde mir meine Haare zusammen.

Die Anzeige meines Weckers springt auf halb acht. So langsam sollte ich mir mal etwas zum Anziehen raussuchen. Ich durchforste meinen Schrank und entscheide mich für eine helle Jeans und einen dunkel grünen Pulli. Meine Haare lasse ich offen in Wellen über meine Schulter fallen. Auf der Treppe kommt mein Vater mir entgegen. „Ich fahr jetzt zu Lias, ja? Ich hab einen Schlüssel mit, ich komm dann nachher so rein, okay?" Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange, bevor er mich zurück halten kann und laufe nach unten. Kylie wartet schon vor der Tür. Sie trägt einen Rock mit Strumpfhose und Body, darüber eine dicke Winterjacke, die ihr Outfit optisch etwas zerstört. Auf der kurzen Fahrt zu Lias berichte ich Kylie hastig und knapp von meinem Erlebnis. „Leah, du musst das Niklas erzählen! Ich meine, irgendsoein Freak macht Jagd auf dich!" Ich hatte selbst überlegt, ob ich Niklas erzähle, was passiert ist, aber ich wollte ihm unbedingt beweisen, dass ich alleine auf mich aufpassen kann. Und noch war ja nichts passiert.
Wir erreichen das kleine Haus, in dem Lias und sein Vater wohnen und stellen unsere Räder ab. „Seh ich gut aus?", fragt Kylie und hält mich vom Klingeln ab. „Siehst du immer", antworte ich und klingel. Lias reißt die Tür schwungvoll auf. Ich muss mich sehr zusammenreißen um nicht laut loszulachen. Er trägt ein weißes Hemd mit Jacket und eine schwarze Hose. Nur seine Haare sehen so strubbelig aus wie immer. „Was hast du denn an?", frage ich und umarme ihn zur Begrüßung. „Tja, erkennst mich gar nicht wieder, was?" Er schmunzelt und umarmt auch Kylie, bevor er die Tür hinter uns schließt und uns ins Wohnzimmer führt. Ich schüttel den Kopf und lächle, denn so hab ich ihn wirklich noch nie erlebt. Sonst trägt er immer Jeans und Pullis, aber keine Jacketts. Im Wohnzimmer tummeln sich schon einige Leute, unter ihnen auch Vanessa. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und gucke Lias fragend an. „Gehört halt dazu", sagt dieser nur ausweichend. Lias verlässt uns um die neu ankommenden Gäste herein zu lassen. Laute Musik wummert aus zwei aufgebauten Boxen und Kylie kreischt auf: „Das ist unser Lied! Heute Abend wird getanzt!" Mit diesen Worten zieht sie mich in die Mitte des Raums und fängt an um mich herum zu tanzen. Ihre Bewegungen sind so ansteckend, dass ich mit einfalle. Nach sieben Liedern halte ich es nicht mehr aus und stürze zur Theke um mir was zu trinken zu besorgen. Ich greife nach einer Cola und will gerade die Flasche ansetzen, als mich jemand am Arm packt und mich aus der Küche zerrt. Dem Griff nach zu urteilen ist die Person männlich. Er zieht mich hinter sich her ins Badezimmer und schließt hinter uns ab. Erst dann flackert die Deckenleuchte auf. Wütend drehe ich mich um. „Was machst du hier?", frage ich vollkommen überrascht und gleichzeitig unendlich sauer. Ich massiere die Stelle an meinem Arm, an der Abdrücke des festen Händedrucks zu erkennen sind. Lukas verschränkt die Arme vor der Brust und tritt einen Schritt zurück. „Du solltest nicht hier sein, Leah. Das ist im Moment zu gefährlich. Ich bring dich nach Hause." „Geht's noch?!", fauche ich, „Du tauchst hier einfach so auf, nachdem du eine Woche wie vom Erdboden verschluckt warst, entführst mich in ein Badezimmer und sagst mir, dass die Party meines besten Freundes zu gefährlich für mich ist? Ich glaube, du spinnst!" Wutentbrannt will ich ihn zur Seite schieben, doch er packt mich an den Hüften und schiebt mich zurück. Meine Haut kribbelt unter seiner Berührung doch ich verscheuche das Gefühl. Ich weiche nach hinten und falle gegen die Kommode, kann mich aber so gerade noch aufrecht halten. „Ich musste etwas erledigen. Und du weißt, dass ich stärker bin als du. Entweder du kommst freiwillig mit, oder ich bringe dich mithilfe von Gewalt zurück zu deinem Haus. An deiner Stelle würde ich Option eins wählen." Trotzig stemme ich meine Hände in die Hüften: „Warum sollte ich?" „Weil ich das sage", knurrt Lukas gefährlich leise und kommt einen Schritt auf mich zu. „Da draußen versuchen einige Übernatürliche dich zu überwältigen und deine Kräfte für ihre Zwecke zu nutzen, also halt einfach einmal deine Klappe und glaub mir, dass ich weiß, was das Beste für dich ist." „Der Typ vorhin...", flüstere ich erschrocken. „Welcher Typ?", fragt Lukas. „Da war ein Mann, im Wald, ein Dämon. Er ist an mir vorbei geflogen, zwei mal. Er hatte so komische Augen, eisblau und... " „Eisblau? Und dunkle Schwingen?", unterbricht mich Lukas. Ich nicke langsam, mein Kopf fühlt sich schwer an. Unter Lukas Augen liegt ein Schatten als er mit leiser Stimme sagt: „Wir müssen hier weg. Du bist in Gefahr. Ich hole dich da raus bevor wir richtig in der Scheiße stecken. Aber du musst mir vertrauen, Leah." Ich lache gequält auf. „Dir vertrauen...Wieso sollte ich gerade dir vertrauen, ich kenn dich nichtmal wirklich! Außerdem hasst du mich!" Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Verdammt, jetzt bloß nicht weinen! Lukas kommt noch einen Schritt auf mich zu, jetzt ist er mir noch näher. Zu nah. Wir sind nur ein paar Zentimeter voneinander getrennt. „Ich hasse dich nicht. Ich will auf dich aufpassen, aber du machst es mir verdammt nochmal unglaublich schwer", sagt Lukas leise mit einer rauen Stimme. Obwohl ich es nicht will, starre ich während er redet auf seine Lippen. Er hebt vorsichtig mein Kinn an, sodass ich gezwungen bin, ihm in die Augen zu sehen. Ich bin in seinem Blick gefangen, seine wunderschönen braunen Augen strahlen mich an. Eine einzelne Strähne hängt ihm wie so oft ins Gesicht und ich muss mich zusammenreißen, sie ihm nicht zurück zu streichen. „Du bist etwas ganz besonderes, nur siehst du das nicht", flüstert er. Sein Gesicht kommt meinem immer näher, die Luft wird dünner und ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Lukas lässt mein Kinn los, aber nur um eine Strähne hinter mein Ohr zu streichen. Er fährt mit seinen Fingern meinen Hals entlang und lässt seine Hand dort liegen. Ich nehme wahr, wie sein Blick auf meine Lippen fällt und plötzlich geht alles ganz schnell. Er zieht mich zu sich und presst seine Lippen auf meine. Zuerst bin ich viel zu geschockt, doch dann erwidere ich den Kuss. Ich überwinde die letzten Zentimeter zwischen uns und presse mich an Lukas. Er schiebt seine Hand in meine Haare, mit der anderen umfasst er meine Taille. Er verstärkt den Kuss und schiebt vorsichtig seine Zunge in meinen Mund. Mit einem Mal ist alle Vorsicht vergessen und wir küssen uns so leidenschaftlich, als hätten wir nie etwas anderes gemacht.
Der Kuss findet ein jähes Ende, als jemand von außen gegen die Tür hämmert. „Dauert das noch lange? Ich muss pissen!" Lukas taumelt zurück und fährt sich hektisch durch die Haare. Ich atme schwer und kämpfe damit, meine Lungen mit Luft zu füllen. „Fuck", keucht Lukas und sieht sich im Raum um. Fuck? Also vor ein paar Sekunden schien es ihm noch gut zu gehen... Das Klopfen verstärkt sich. „Okay, komm nach draußen, ich warte vor der Tür? Verstanden?" Ich kann nur nicken. Lukas schwingt sich auf die Fensterbank, öffnet das kleine Fenster und springt in die Nachtluft. Kein einziges Wort verliert er über das, was gerade passiert ist. Meine Gefühle wirbeln wild durcheinander. Ich weiß nicht, ob ich vor Glück oder vor Wut über sein wechselndes Verhalten zerspringen soll. „Ich tret die Tür gleich ein!", poltert es von außen. Dann muss ich mir wohl später über meine Gefühle klar werden beschließe ich und öffne die Tür. „Sorry", murmle ich und haste an dem Blonden vorbei. Der schüttelt nur den Kopf und schlägt die Tür hinter sich zu. Ich eile durch den Flur, schnappe mir meine Jacke und renne in Lias. „Hey, was ist los? Alles gut?" Besorgt hält Lias mich fest. „Ja, ich muss nur leider schon los. War ne tolle Party. Ähm, sorry ich muss echt weg...", stottere ich. Mir tut es in der Seele weh Lias so besorgt zu sehen, doch ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen. Was auch? Sowas wie: „Ich bin übrigens ein Engel, werde von Dämonen gejagt und habe gerade mit Lukas in deinem Badezimmer rumgeknutscht, weiß aber selber nicht genau warum"? Nein, definitiv nicht. Ich ziehe Lias an mich und umarme ihn, dann ziehe ich mir meine Jacke über und stolpere nach draußen. Die schwere Haustür rastet hinter mir hörbar ins Schloss ein. Ich sehe mich in der Dunkelheit um. Lukas lehnt an der Hauswand, stößt sich ab und kommt zu mir. „Komm", sagt er nur und setzt sich in Bewegung. Doch ich bleibe stehen. „Warum bin ich in Gefahr?", frage ich und verschränke meine Arme vor der Brust. Lukas bleibt stehen und dreht sich zu mir um. „Das hab ich doch schon gesagt. Dieser Mann, der dir vorhin begegnet ist, will höchstwahrscheinlich deine Kraft für sich. Dafür braucht er dich, also wird er versuchen, dich zu bekommen. Und Dämonen sind nicht zimperlich in solchen Angelegenheiten." Ich will gar nicht wissen, was er mit „nicht zimperlich" meint. Lukas kehrt mir den Rücken zu und läuft weiter und ich gehe ihm mit schnellen Schritten hinterher.
Nach ein paar Minuten stillen Schweigens überlege ich immer noch, ob und wenn ja wie ich Lukas auf den Kuss ansprechen soll. Was bedeutet der Kuss? Wollte Lukas dadurch mein Vertrauen gewinnen? Oder wollte er mich wirklich von sich aus küssen? Ich weiß es nicht, trotzdem kann ich mich nicht dazu durchringen, ihn zu fragen. Es wird immer dunkler um uns herum, nur eine einzelne Straßenlaterne erleuchtet unseren Weg. „Gib mir deine Hände", fordert Lukas. Ich gehorche, wenn auch widerwillig, denn ich weiß, dass es nichts bringt mit ihm zu diskutieren. Also lege ich meine Hände in seine und gucke ihn an. „Auf drei klappst du die Schwingen aus. Wie im Kino. 1...2...3!", ruft er und ich konzentriere mich meine Schwingen auszufahren. Wie damals erfasst uns ein Wirbel und ich kneife die Augen fest zusammen. Nach einigen Sekunden stehen wir wieder auf festem Boden. Doch anders als erwartet, stehen wir nicht vor meinem Haus. „Wo sind wir?"

Black and WhiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt