Jemand schüttelt mich, doch ich bleibe reglos liegen. Ich will meine Augen nicht öffnen, will nichts mehr sehen, nicht mehr fühlen. Ich fühle mich ausgelaugt und schwach, eher tot als lebendig. Warum kann das nicht einfach vorbei sein? Ich mache mir nicht mal mehr Sorgen um Lukas oder unsere Situation, es ist mir egal, wer den Raum betreten hat. War es Niklas? Es ist nicht wichtig. Nichts fühlt sich wichtig an. Wieder wird an mir gerüttelt, jetzt werden auch Stimmen laut. Sie hören sich schrill und nervig an, aber ich nehme sie wieder deutlich wahr. Ein Fiepen schrillt in meinen Ohren. Ich will sie mir zuhalten, doch ich kann mich nicht bewegen. Auf einmal werde ich hochgerissen und über eine Schulter geworfen. „Wir haben nur ein paar Sekunden, dann müssen wir hier raus sein! Kannst du gehen, Lukas?" Die Stimme kommt mir bekannt vor, doch ich kann sie nicht zuordnen. Eine warme Hand liegt auf meinem Rücken. Mein Träger wird schneller, wir rennen durch das hallende Kellergewölbe. Zumindest glaube ich, dass wir noch in dem Gebäude sind. „Was ist mit ihr?", fragt eine zweite Stimme, scheinbar beunruhigt. Ja, was ist mit mir? „Ich weiß es nicht, aber wir müssen sie hier rausbringen. Und zwar schnell." Der Meinung bin ich auch, denn langsam spüre ich meinen Körper wieder. Und mit ihm die Schmerzen. Mein Handgelenk, mein Kopf und mein Brustkorb, der gegen einen harten Rücken gedrückt wird. Ich will meinen Mund öffnen um etwas zu sagen, doch ich bringe kein Wort heraus. Ich blinzel und versuche die Umgebung zu erkennen. Die Wände sind die selben, wir sind also immer noch in dem Gewölbe. „Niklas, da vorne ist jemand!", ruft eine männliche Stimme hektisch. Niklas ist hier, alles wird gut. Diesen Satz wiederhole ich in meinem Kopf, während wir langsamer werden. Plötzlich werde ich unsanft abgesetzt. Taumelnd klatsche ich auf den nasskalten Boden. Zwei starke Arme greifen um meine Taille und ziehen mich hoch. Vorsichtig öffne ich meine Augen und sehe direkt in die strahlenden Augen von Niklas. Ich unterdrücke ein Schluchzen. „Du bist hier", flüstere ich leise und kralle mich in seinen Arm. „Ich bin hier. Wir bringen euch hier raus", antwortet er und streicht mir über meine Haare. Ich blicke zu Lukas, der neben uns steht. Wie kann es sein, dass sein Herz wieder schlägt und zwar so deutlich, dass ich es fast unter seinem Shirt pulsieren sehen kann? Ich schwöre, dass es vorhin nicht geschlagen hat. Oder hab ich mir das eingebildet? „Gabriel ist auf dem Weg zu uns. Wir müssen handeln." Ein junger dunkelhaariger Mann tritt in mein Sichtfeld und erst jetzt bemerke ich die sieben weiteren Übernatürlichen um mich rum. „Ich weiß", knurrt Niklas, „wir gehen geradeaus. Jeder, der sich uns in den Weg stellt wird beseitigt." Der Mann nickt. „Kannst du laufen?", wendet sich Niklas an mich. Ich nicke. „Bleib bei ihr, keine Alleingänge mehr!", weist Niklas Lukas an und spielt damit wahrscheinlich auf unser Treffen mit Gabriel an. Wir setzen uns in Bewegung. Nach wenigen Schritten spüre ich, wie Lukas seine Hand in meine schiebt und sie drückt. Wir werden schneller. Zwei Dämonen kommen auf uns zu, zornig bauen sie sich vor uns auf. Doch auf Niklas Befehl packt der Dunkelhaarige den ersten Dämon am Hals und drückt zu, bis dieser nicht mehr atmet. Angespannt starre ich auf ihn hinab. Auch sein Gefährte landet auf dem Boden. „Komm, weiter", sagt Lukas und zieht mich mit sich. Leichtfüßig renne ich an Lukas Hand Niklas hinterher. Wir laufen durch ewig lange Flure und nach bestimmt einer Viertelstunde im schnellen Lauftempo erstreckt sich endlich eine große graue Stahltür vor uns. Der Übernatürliche, dessen Namen ich noch immer nicht kenne, stößt die Tür auf. Ich stolpere ins Freie. Es ist dunkel, vereinzelt leuchten die Sterne auf uns herab. Ich atme tief durch und beuge mich vorne über. Niklas klopft mir auf den Rücken. „Du hast es geschafft. Jetzt bringen wir euch in Sicherheit und morgen gehen wir zu Devon und berichten." Ich nicke schwer. Lukas kniet etwas entfernt von mir und ich werfe einen verstohlenen Blick zu ihm. Seine Sachen sind an einigen Stellen zerrissen und Blutflecken zieren das blaue Shirt. Seine Haare sind zerzaust und seine Lippe ist aufgeplatzt und blutet. Ich richte mich auf um zu ihm zu gehen, doch ich komme nicht dazu. Jemand packt mich von hinten und reißt mich an sich. Ich lasse einen gellenden Schrei los. „Sie bleibt hier!", sagt die Stimme meines Entführers kalt und bestimmt. Ich muss ihn nicht ansehen, um zu wissen, wer mich festhält. Lukas ist aufgesprungen. Blanke Wut liegt in seinem Gesicht. Niklas und die übrigen unserer Retter kommen auf uns zu. „Lass sie los, Gabriel. Es ist vorbei", sagt Niklas erstaunlich ruhig. Der Griff um meinen Arm wird noch fester. „Du weißt, dass ich sie dir nicht geben werde. Jetzt wo ich ihre Kraft kenne lasse ich sie nicht mehr gehen!" Warum kennt er meine Kraft? Und warum kenne ich sie nicht? Doch niemand scheint überrascht zu sein, nichtmal Lukas. Was ist denn meine Kraft? Und ist sie wirklich so unglaublich wie alle sagen? „Ich kann nicht drohen sie umzubringen, denn wir wissen beide, dass das nicht geht. Aber trotzdem kann ich ihr weh tun. Und das werde ich, wenn sie nicht tut was ich sage", sagt Gabriel und zieht mich noch näher an sich. „Was ist meine Kraft?", stelle ich die Frage, die mir auf der Zunge brennt. Lukas Gesichtsausdruck ist starr, Gabriel lacht höhnisch. Ich sehe zu Niklas. „Du kannst die Toten zurück ins Leben holen. Das kann nur ein anderer Übernatürlicher auf dieser Welt. Devon. Doch du hast nicht nur diese Gabe, sondern du bist auch unsterblich." Das ist absurd. Aber es macht Sinn. „Du warst tot", flüstere ich in Lukas Richtung. Er nickt zur Bestätigung. Panik flutet mich. Werde ich jetzt für immer leben? Ab wann werde ich nicht mehr altern? Ich will nicht unsterblich sein! Wahrscheinlich träumen Millionen Menschen von der Unsterblichkeit, doch ich wollte schon immer ein ganz normales Leben führen. Und zu einem normalen Leben gehört nunmal, dass man irgendwann stirbt. Ich bin überwältigt. Warum muss das gerade mir passieren?! Gabriel drückt mir etwas scharfes in den Rücken. Ein Messer? Ich krümme meinen Rücken und gucke verzweifelt zu Niklas. Dieser hat seine Hände zu Fäusten geballt. „Ich sagte, lass sie gehen", wiederholt er knurrend. „Niemals", lächelt Gabriel und stößt mir mit Kraft das Messer in meine Seite. Ich schreie. Blut spritzt aus der Wunde. In weniger als zwei Sekunden ist Niklas bei Gabriel und Lukas bei mir. Die Wunde brennt und ich verliere immer mehr Blut. Lukas presst seine Hand auf die Stelle und versucht mich zu beruhigen: „Halte durch, okay? Ich bring dich hier weg, du musst nur noch kurz Geduld haben." Vorsichtig hilft er mir hoch und stützt mich. Vier weitere sind zu Gabriel gerannt, doch mit einem Mal weichen sie alle von ihm weg. Ein dumpfes Grollen ertönt, dann ein Schrei. Was passiert da? Wo ist Niklas? Ich versuche meinen Kopf zu recken um besser zu sehen, da fährt Gabriel seine Schwingen aus und stößt sich vom Boden ab. „Wir sehen uns wieder!", brüllt er, dann fliegt er, gefolgt von zwei Übernatürlichen, davon. Jetzt erst sehe ich, dass jemand am Boden liegt. Der Dunkelhaarige kniet neben ihm. Ich taumle zu der Stelle. Nein. Bitte nicht. Niklas liegt am Boden. Ein Messer steckt in seiner Brust. „Leah", keucht er. Sein Atem rasselt. Ich schüttel den Kopf, als würde das die Situation ungeschehen machen. Ich falle auf die Knie, ignoriere meine eigene Verletzung und greife nach Niklas Hand. „Tut doch etwas!", schreie ich hysterisch. Der Namenlose legt mir eine Hand auf die Schulter: „Er stirbt, Leah. Wir können nichts tun." Ich schüttel seine Hand ab. Da fällt es mir ein. Natürlich können wir etwas tun! Ich kann etwas tun! Ich überlege fieberhaft, was passiert ist, als ich Lukas geheilt habe. Ich drücke Niklas Hand, doch das Gefühl der Wärme bleibt aus. Warum funktioniert das nicht? Was bringt mir diese beschissene Kraft, wenn ich sie nicht benutzen kann? Tränen fließen mir von den Wangen und versickern in Niklas Shirt. „Lass mich nicht allein", flehe ich. Niklas Augen flackern. „Ich werde immer bei dir sein, Leah. Da drin." Er führt unsere Hände zu meinem Herzen. Sein Atem wird flacher, er röchelt. „Nein", kreische ich und drücke noch einmal seine Hand. Ohne Erfolg. Niklas Augen fallen zu. Er bewegt sich nicht mehr. Das zweite Mal an diesem Tag hat ein Herz aufgehört zu schlagen. Doch dieses Mal für immer.
Ich zitter am ganzen Körper als einer der Männer vorsichtig meine verkrampfte Hand von Niklas löst und mich hochzieht. Er führt mich zu Lukas, der mich in seine starken Arme zieht. Ich stehe nur stumm da und lasse meine Tränen laufen. Wie kann ich meiner Mutter je wieder in die Augen sehen? Meinetwegen musste Niklas sterben. Wie ich sie gerade vermisse. Wie ich alles vermisse. „Wir nehmen ihn mit. Einen Flug wird er überstehen", sagt einer der Männer. Zwei umfassen Niklas toten Körper und erheben sich in die Luft. Die anderen tun es ihnen gleich. Lukas hebt mein Kinn an. „Bist du bereit?", fragt er und nimmt meine Hände in seine. Ich nicke, doch innerlich schreit alles in mir nein. Ich fahre meine Schwingen aus und im nächsten Moment fliegen wir durch die Nacht.
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Black and White
Teen FictionStell dir vor, an deinem 16. Geburtstag fängt dein Körper an sich zu verändern. Unmenschliche Flügel wachsen aus deinem Rücken. Und plötzlich musst du dein Leben als Engel weiterführen, ohne je darauf vorbereitet worden zu sein. Und als wenn das ni...