Kapitel 19.

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Drei Tage sind vergangen, seitdem ich wieder zuhause bin. Erst gestern hatte ich mich dazu bereit gefühlt mich mit Kylie zu treffen und ihr alles zu erzählen, angefangen mit dem Kuss auf Lias Party, bis hin zu meiner Begegnung mit Devon und meinem Ankommen bei meiner Familie. Kylie hatte sich alles ruhig angehört, erst als ich erzählte, dass Lukas „das zwischen uns" beendet hatte, fluchte sie los. „Ist das sein Ernst? Was für ein kompletter Vollidiot!", hatte sie getobt und anschließend über ihn geschimpft und gezetert. Nach zwei Stunden Schimpfen, Heulen und Erzählen hatte sie mich in ihre Arme genommen und mich an sie gedrückt. „Es tut mir so Leid, Leah. Das muss schrecklich gewesen sein. Erst deine Entführung, Niklas Tod und dann zieht dieser beknackte Dämon Lukas auch noch sowas ab. Kommst du klar?", hatte sie gefragt und mich mitfühlend angeguckt. Ich hatte nur genickt und auch jetzt weiß ich es nicht. Stimmt das? Komm ich klar? Heute ist Niklas Beerdigung, heute werde ich einige Übernatürliche treffen, die Karim zu Niklas Beisetzung eingeladen hat. Und heute werde ich ihn wiedersehen. Lukas König. Zum Glück hatte Kylie angeboten mit zu kommen, und ich hatte ihr Angebot dankend angenommen. Ein zaghaftes Klopfen ertönt an der Tür. „Ja?", frage ich und streiche über mein schlichtes schwarzes Kleid, welches ich aus meinem Schrank gekramt habe. Das letzte Mal, als ich es anhatte, war die Beerdigung meines Opas gewesen. Meine Mutter tritt, ebenfalls mit einem schwarzen Kleid bekleidet, in mein Zimmer. Ihre Augen sind glasig. Ich kann mir gut vorstellen wie sie sich fühlen muss, denn ich fühle mich ähnlich. Dank Karim kann ich die Schuldgefühle an Niklas Tod immer besser verdrängen, aber die tiefe Traurigkeit will nicht verschwinden. Meine Mutter kommt auf mich zu und schließt mich in ihre Arme. „Wir müssen los. In einer halben Stunde beginnt der Gottesdienst", murmelt sie in meine Haare und schiebt mich ein Stück von sich. Ich versuche gar nicht erst zu lächeln, denn ich weiß, dass es mir nicht gelingen würde. „Ich komme gleich runter", antworte ich. Meine Mutter streicht über meinen blassen Arm und verlässt den Raum. Ein letztes Mal überprüfe ich mein Aussehen im Spiegel. Das Kleid reicht nur bis zu meinen Knien und die Nylonstrumpfhose verdeckt mehr schlecht als recht meine abklingenden Blutergüsse. Mein Handgelenk ist mit einem schneeweißen Verband verziert. Nicht einmal die doppelte Schicht Concealer kaschiert meine dunklen Augenringe. „Du schaffst das", flüstere ich meinem Spiegelbild zu und folge meiner Mutter nach unten. Die letzten drei Tage war es still im Haus, selbst Emmy hat die Anspannung von allen bemerkt. Auch jetzt kommt sie unruhig auf mich zu und versucht an mir hochzuspringen, doch ich schiebe sie sanft beiseite und verweise sie in ihren Korb in der Küche. Eine kleine Hand umschließt meine Finger. Ich sehe zu Lina, die sich neben mich gestellt hat und mich vorsichtig anblinzelt. Karim hatte nur meinen Eltern von meinem „Ausflug" erzählt, Lina und Jonah wussten nur, dass ich entführt wurde und Niklas umgekommen ist. Ich drücke Linas Hand und sie lächelt. Ich lächel zurück, doch es ist ein trauriges Lächeln, welches weder meine Augen, noch mein Herz erreicht.

Zwanzig Minuten später parkt mein Vater den Wagen auf dem Kirchenparkplatz. Mindestens zwanzig weitere Autos stehen hier und viele Leute laufen zur Kirche oder unterhalten sich. Knapp die Hälfte ist übernatürlich, stelle ich fest nachdem ich sie auf ihre Schatten überprüft habe. Die sich ankündigende Winterkälte kriecht unter mein wehendes Kleid und lässt mich erzittern. In der Kirche stoßen wir auf Kylie. Sie trägt einen grauen Wollrock und eine schwarze Bluse, ihre braunen Haare hat sie in einem Knoten hochgesteckt, wohingegen meine lockig über meine Schultern fallen. „Hey", begrüßt sie uns leise und quetscht sich zwischen Jonah und mich in die knarzende Kirchenbank. „Hast du Mr. Arsch schon gesehen?", raunt sie mir zu. Ich schüttel den Kopf: „Nein. Zum Glück noch nicht." Kylie will noch etwas sagen, doch in diesem Moment fangen draußen die Glocken an zu leuten und der Pastor läuft langsam nach vorne. Nach einigen Minuten verstummen die Glocken und es wird still. Hier und da hört man ein Schluchzen oder ein ersticktes Schniefen. Der ältere Pastor ist neben dem Sarg stehen geblieben und beginnt mit einer leisen, etwas zittrigen Stimme den Gottesdienst. Ich kann seinen Worten nicht folgen, mein Blick ruht auf dem dunkelblonden Haarschopf vier Reihen vor uns, der eindeutig Lukas gehört. Jetzt bemerke ich auch Karim, der neben Lukas sitzt, den Kopf leicht gesenkt. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, und in meinen Gedanken wiederholen sich Lukas Worte in Dauerschleife. Wie kann es sein, dass er mich für etwas Besonderes hält, mich küsst und im nächsten Moment eine ganz andere Einstellung mir gegenüber hat? Kylie bereitet meinen rasenden Gedanken ein jähes Ende, als sie mir ihren Ellenbogen in die Seite rammt. „Aufstehen, wir laufen jetzt zum Grab...", raunt sie. Ich erhebe mich und bleibe hinter Kylie auf wackligen Beinen stehen. Vier Männer, unten ihnen auch der Dämon Florenzo, haben sich um den Sarg mit Niklas Leiche positioniert. Der Pastor hat die Hände gehoben und beendet gerade seine Predigt. „Niklas Steiner", sagt er und erntet dafür weitere Schluchzer der Trauergesellschaft. Er räuspert sich und spricht andächtig: „So mögen deine Engel dich auf dem Weg in den Himmel begleiten und dich behüten. Amen." Neben mir heult jemand auf. In meinen Augen brennen die Tränen. Seine Engel? Ich war sein Engel. Und ich konnte ihn nicht behüten und begleiten werde ich ihn auch nicht können! Die Tränen lösen sich aus meinen Augen und rinnen meine heißen Wangen hinunter. Kylie nimmt mich in den Arm und bettet meinen Kopf auf ihrer Schulter. Ich weine und lasse meine Tränen in ihren Haaren versickern. Ich sehe aus den Augenwinkeln wie die Männer den Sarg greifen und ihn langsam in Richtung Tür tragen. Ein mir unbekannter Mann hat eine Musikbox mitgebracht und macht sich an dieser zu schaffen. Die Sargträger sind schon halbwegs draußen, als die ersten Akkorde von "Angel" erklingen. Ich weiß, dass es Niklas Lieblingslied war, doch heute höre ich zum ersten Mal genau auf den Text. „I'm in love with an angle..., heaven forbid...", singt die raue Stimme vom Bandsänger Tyler Connolly. Ich muss hier raus. Ich kann nicht atmen, bekomme keine Luft. Tränenerstickt stürze ich aus der engen Bank, renne aus der Seitentür der Kirche ins Freie und falle auf die Knie. Immer noch höre ich das Lied und mein heftiges Schluchzen schüttelt mich. Ich verberge mein Gesicht in den Händen. Es ist mir egal, dass meine Strumpfhose höchstwahrscheinlich gerissen ist, und auch dass es angefangen hat zu regnen, während ich hier draußen sitze. Meine Tränen vermischen sich mit dem Regen und ich schaue nach oben in die dunklen Wolken. „Ich werde für immer dein Engel sein, Niklas. Versprochen", schluchze ich.

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