Kapitel 92: Denn mein Vater konnte mir nur zeigen, was hassen ist

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Drei Wochen zuvor 

So schnell es nur ging verließ ich die Wohnung. Ich eilte die Treppenstufen herunter, ließ die große, schwere Haustür hinter mir ins Schloss fallen und lief so schnell ich konnte. Ich lief soweit bis die Seitenstiche unerträglich wurden und meine Beine mich kein Stück weiter in diesem Tempo tragen könnten. Vorsichtshalber drehte ich mich noch einmal um und stellte zu meinem Glück fest, dass er mir nicht gefolgt war. Erleichtert atmete ich auf und setzte meinen Weg dann nach einer kleinen Verschnaufpause langsam fort, schließlich würde ich mir ja gleich mit Luisas Vater noch weitere Wohnungen ansehen und das wurde auch wirklich dringend Zeit. Lange würde ich es garantiert nicht mehr in diesem Irrenhaus aushalten!

Normalerweise hatte ich mich ja immer noch relativ gut gegen Frank wehren können, doch heute hatte ich das erste Mal so richtig Angst vor ihm gehabt und fühlte mich im selben Moment absolut furchtbar, dass ich jetzt einfach abgehauen war und diesen Wichser mit meiner Familie alleine gelassen hatte. Doch heute ging es wirklich ausnahmsweise mal nur um ihn und mich und kein Weiterer war involviert, was in dem Fall echt gut war. Das Thema unserer Auseinandersetzung war Luisa. Und zwar hatte es damit angefangen, dass ich mit meiner Mutter ganz normal geredet hatte und ihr etwas von Luisa erzählt hatte, weil sie mir dabei immer total gerne zuhörte und sich für mich freute. Nur kam in genau diesem Moment Frank von der Arbeit und hörte etwas von unserem Gespräch, da ich es nicht einsah nur wegen ihm jedes Gespräch direkt unterbrechen zu müssen. Direkt meinte er sich einmischen zu müssen und fragte neugierig nach, wer denn diese Luisa sei. Ich antwortete ihm so knapp und unhöflich wie möglich und dann fing alles an. Während er anfangs nur spöttische Kommentare darüber verlor, dass ich angeblich eine Freundin hätte und er das ja gar nicht glauben könnte, wurde er zum Ende hin einfach nur beleidigend und unfair. Wie ein behindertes Dreckskleinkind, nur mit dem Unterschied, dass ich einem behinderten Dreckskleinkind schon längst eine reingehauen hätte.
Er stellte es absolut in Frage, dass ich je dazu fähig sein würde eine Person zu haben, die mich lieben würde. Er war der festen Überzeugung, dass niemand jemanden wie mich lieben würde und mich eigentlich jeder nur abstoßend fand, da ich genauso wie mein richtiger Vater war. Ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich wusste, dass ich viele Freunde hatte, die mich sogar sehr gerne mochten und ich wusste, dass ich eine wunderbare Freundin hatte, mit der ich auch einfach nur Glück hatte. Trotzdem machten seine Worte mich unglaublich wütend und anstatt es dann einfach gut sein zu lassen, machte er bloß weiter. Mein Hass auf diesen Mann, der meine komplette Familie zerstörte, wuchs unaufhörlich und bei jedem weiteren seiner Worte wurde der Drang ihm einfach ins Gesicht zu boxen immer stärker, sodass keine paar Sekunden später tatsächlich genau das passierte. Das war für Frank natürlich ein gelungenes Fressen und während er mir weiterhin Beleidigungen an den Kopf warf, die wieder einfach nur unfair und absolut unter der Gürtellinie waren, schlug er ebenfalls zu. Er wurde immer wütender und aggressiver und dabei immer stärker. Nachdem mein eines Auge fürchterlich wehtat und wie verrückt pochte und aus meiner Nase Blut tropfte wie aus einem Wasserhahn, konnte ich nicht mehr weiter hier bleiben. Ich hatte so schnell es ging das Haus verlassen, hatte mir währenddessen meinen Ärmel unter meine Nase gehalten und war einfach nur gerannt.
Frank war eine absolut gestörte und aggressive Person, mit der ich nun wirklich nichts mehr zu tun haben wollte und obwohl ich wusste, dass er meine Mutter nie so stark schlug, weil sie sich ihm ja nicht widersetzte oder gar wehrte, tat mir der Gedanke im Herzen weh, dass er ihr auch nur ein Haar krümmte, während ich jetzt weg war. Aber es war einfach so. Ich konnte nicht mehr dort bleiben.
Deshalb stand ich jetzt auch am Bahnsteig in Bielefeld und wartete auf meine Bahn, um, wenn auch nur für ein paar Stunden, in eine vollkommen normale, liebenswerte Familie zu kommen.

Jedoch als ich völlig nichtsahnend an der Haustür klingelte und schon völlig verdrängt hatte, wie ich aussah, war es Luisas Vater, der mir völlig schockiert die Tür öffnete und mich ansah, als wäre mir gerade ein drittes Auge auf der Stirn gewachsen. Ich winkte jedoch nur direkt ab und tat so, als wäre nichts passiert, obwohl der Schmerz eigentlich so verdammt tief saß. Zwar war er ziemlich skeptisch und glaubte mir scheinbar kein Wort, doch er sagte dann erstmal nichts mehr dazu, sondern fuhr mit mir zu der Wohnungsbesichtigung von der Wohnung seines Kollegen, von der er mir schon so viel erzählt hatte, nachdem ich mich vorher noch schnell etwas frisch machen konnte.

Wie erwartet war die Wohnung auch wirklich schön und gegen den Preis konnte man auch nichts sagen, doch fehlte mir immer noch vorne und hinten jegliches Geld. Luisas Vater hatte Recht, so etwas günstiges für diese Qualität würde ich so schnell nicht mehr finden, doch selbst dafür reichte mein Geld nicht, weshalb ich ihm dann im Auto irgendwie verklickern versuchte, dass ich mich gegen diese Wohnung entscheiden würde.

"Aber warum das denn? Sie ist doch nahezu perfekt und so günstig! Warum schlägst du da nicht zu?" Er sah mich ziemlich unverständlich an und schüttelte fragend mit dem Kopf, doch darauf fiel mir auch keine passende Antwort ein. Er hatte sich so viel Mühe damit gegeben mit mir beinahe jeden Tag Wohnungen anzusehen, die ich alle abgeschlagen hatte und jetzt, bei der wohl günstigsten Wohnung, sollte ich ihm dann sagen, dass es mir zu teuer war? Das konnte ich doch auch schlecht bringen.

"Was ist denn los, Tim? Hat es vielleicht andere Gründe?"
Ich sah seufzend zu ihm rüber und schluckte. Sollte ich ihn wirklich von all dem erzählen? Konnte ich mich ihm so anvertrauen? Aber welchem Erwachsenen schon, wenn nicht ihm? Ich glaube, dass ich mich zu keinem Erwachsenen in letzter Zeit so vertraut gefühlt hatte, wie zu Luisas Vater...

"Naja", murmelte ich dann schulterzuckend und atmete ein weiteres Mal tief durch. "Ich habe halt ein bisschen Stress zuhause." Ein bisschen Stress war gut...

"Was ist denn passiert? Wollen deine Eltern nicht, dass du ausziehst?", fragte er dann weiter und sah mich so eindringlich an, als könnte er die Antwort schon alleine daher finden.

"Nein, nein das ist es nicht", stotterte ich weiter und merkte, wie ich immer unentschlossener wurde, ob ich es ihm nun sagen sollte oder nicht.

"Was ist es dann? Hat es was mit- mit deiner Nase und deinen Augen zu tun? Und mit den blauen Flecken an deinen Armen? Tim, mir fällt sowas auf, auch wenn du es vielleicht nicht bemerkst, aber das macht mir Sorgen. Wurdest du geschlagen?"
Er machte sich Sorgen um mich? Wie bitte? Da war er vermutlich der einzige Erwachsene! Trotzdem nickte ich ganz langsam und zaghaft und sah dann auf meine Hände herab. Das Gespräch wurde mir von Minute zu Minute immer unangenehmer.

"Von wem?" Ich atmete ein weiteres Mal tief durch und sah dann zu ihm rüber, wobei mir sein wirklich besorgter Gesichtsausdruck nicht entgang.

"Von Frank."

"Wie bitte?" Seine Augen wurden direkt groß und er sah mich ungläubig an. "Von deinem Stiefvater Frank?"
Zögernd nickte ich und biss mir fest auf die Unterlippe, um jetzt ja nicht in Tränen auszubrechen und dann erzählte ich ihm alles. Vom Anfang bis zum Schluss und er hörte mir die komplette Zeit aufmerksam zu, ehe er ganz knapp und ernst "Wir müssen auf jeden Fall zur Polizei gehen damit, Tim" sagte.

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