"Du wirst wahnsinnig"

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„Was genau soll das werden, Jester?"
Ich war viel zu benommen um zu reagieren. Ohne, dass ich auch nur etwas tat, zog er mich zurück nach oben und entriss mich dem Tod, der nur einen Fall entfernt gewesen war.
Für einen kleinen Augenblick.
Doch sobald ich meine Knie auf dem Dach hatte, packte Joker beide meiner Handgelenke und zog mich auf die Beine, so nah an sich ran, dass meine Fäuste gegen seine Brust seinen Herzschlag spüren konnten.
Einen Moment war ich wie gelähmt.
Es war er.
Er, gegen den jede meiner Fasern rebellierte, er, der mir alles genommen hatte, was ich besaß.
Außer meinen Willen.
Endlich meine Stimme wiederfindend entriss ich mich seinem Griff und stieß ihn von mir weg „Lass mich los!"
Er lachte und deutete mit dem Finger auf mich „Ich hätte dich wirklich stärker eingeschätzt, meine Liebe."
„Das bin ich.", sagte ich bestimmt und versuchte meinen Worten glauben zu schenken.
„Dann erklär mir, Kassia Jester: Wolltest du schauen, ob dir Flügel wachsen, wenn du dich vom 13. Stock schmeißt? Haha Haha ha!", ich konnte nicht einmal antworten, bevor er mich bereits weiter verhöhnte „Ich erkenne ein gequältes Seelchen, wenn ich eines sehe. Denkst du denn, du bist die Erste die versucht mir zu entkommen, Täubchen?"
Ich zuckte mit den Schultern und wich langsam einen Schritt zurück.
Ich hatte keinen Ausweg. Der Weg zum Fahrstuhl führte mitten an ihm vorbei. Und der andere Ausweg 13 Stockwerke in die Tiefe und ich war mir fast sicher, dass er mich nicht noch einmal auffangen würde.
Nicht dass ich es gewollte hätte.
„Du kannst mich mal!", schrie ich.
Meiner Wut ließ ich zum ersten Mal seit Langem freien Laufe. Warum auch nicht? An wen sollte sie sonst gehen, als an ihn? Und ich konnte ihm nichts anhaben. Er wusste, dass er trotz meinen Versuchen immer noch die Oberhand hatte.
„Du hast mir alles genommen! Ich habe alles verloren! Wegen dir behandelt mich jeder, als wäre ich ein kleines bemitleidenswertes Kind und keiner wird mir je wieder etwas zutrauen!"
Mir wurde beinahe Schwarz vor Augen, ich sah nur noch Joker im Tunnelblick und alles was er getan hatte, all die Tage, eingesperrt und all dieser Schmerz.
Ich bemerkte gar nicht wie ich auf ihn zuging, meine Hand hatte bereits ausgeholt, wie automatisch reagierte mein Körper auf ihn vor mir „Du mieses Stück Scheiße!"
Seine Hand hielt meine auf, bevor sie mit seiner Wange in Kontakt kam.
Dieser Blick...Ich hatte keine Angst mehr. Sie war wie weg von all dem Hass und dem Schmerz. Es tat so weh, alles schrie, meine Knochen, mein Kopf. Ich konnte nicht mehr klar denken, alles was ich wollte war raus, fort.
Ohne mein Zutun befreite ich mich blitzschnell aus seinem Griff, drehte mich herum und schon spürte ich seine kühle Haut an meinem anderen Handrücken.
Er fauchte und stolperte zurück, während ich nur verwirrt meine Hände betrachtete. Ich wusste meine Ausbildung war gut, aber so schnell war ich zuvor nicht.
„Was ist nur los mit mir?"; fragte ich mehr an mich selbst als an ihn.
„Ganz einfach, Jester", murmelte Joker und kam wieder auf mich zu, das altbekannte Grinsen auf den Lippen. Dieses Mal wich ich nicht zurück denn mal wieder war meine Neugierde größer als meine Angst.
Nein, ich hatte keine Angst. Nicht mehr, nie wieder und schon gar nicht vor ihm.
Den zweiten Teil des Satzes flüsterte er nur „Du wirst wahnsinnig"

„Lass mich raus!", schrie ich verzweifelt und hämmerte gegen die stählerne Tür des kleinen Zimmers, in dem ich aufgewacht war.
„Mach die Tür auf, du Arschloch!"
Aber es brachte nichts. Niemand war da.
Ich drehte mich um, schnaufte und ließ mich mit dem Rücken gegen die Tür fallen.
Langsam glitt ich auf den Boden herunter, als ich an alles dachte und es mich überrumpelte.
Ich war gefallen.
Die unzähmbare Kassia Jester saß mit ihrem Hintern auf dem Boden und brach zusammen.
Wie meine Kollegen jetzt schadenfroh lachen würden. Vermutlich suchte deshalb niemand nach mir.
Weil keiner mich wieder haben wollte.
Eigentlich konnte ich auch gleich sterben... Aber was war dann mit Aaron? Warum suchte er nicht nach mir? Warum kam keiner, verdammt?!
War ich allen wirklich so egal? Waren all meine Freunde am Ende froh mich los zu werden?
Ich vergrub meinen Kopf in meinen Händen.
„Was ist mit meinem Leben nur schief gelaufen?", hauchte ich und schüttelte den Kopf.
Okay, Kass, krieg dich wieder ein, redete ich mir selbst zu.
Du wirst nicht kampflos untergehen.
Ich wischte mir meine Tränen weg und sah auf. Der Raum war gerade so groß wie eine Abstellkammer, fast wie ein Schuhkarton, oder eine Gefängniszelle.
Es gab ein Metallbett was an der Wand hing, wie in einer Zelle, einen metallenen Hocker und Schreibtisch und ein winzig kleiner Spalt knapp unterhalb der Decke über dem „Bett".
Hier musste es doch irgend etwas geben, womit ich arbeiten konnte.
Ich hatte unzählige Jahre Ausbildung und Training hinter mir, ich konnte mit beinahe allem etwas ausrichten.
Ich raffte mich auf und lief zum Schreibtisch hinüber, riss die Schubladen auf. Alle waren leer bis auf die unterste.
Ein Kartenspiel.
Verwirrt nahm ich es hinaus und betrachtete die Spielkarten. Sie waren gewöhnlich.
Aber das würde mir reichen. Es musste reichen, beschloss ich.
Das Bett war unglaublich hart. Der alte Teppich, der achtlos darüber geworfen war, war das einzige Zugeständnis, das mir blieb.
Und die Klamotten, die ich am Leib trug.
Ich kletterte auf das Bett und ging auf Zehenspitzen um aus dem kleinen Spalt hinaus sehen zu können. Selbst davor waren Gitterstangen, dabei passte gerade so mein Arm hindurch.
Ich hoffte auf irgendeinen Hinweis darauf wo ich war, aber alles was ich sah war der Himmel und einige Bäume.

„Warum ich?", fragte ich verzweifelt und ließ mich auf die Knie sinken. Joker kniete sich ebenfalls vor mich hin und sah mich grinsend an.
„Du hattest etwas an dir. Außerdem war es nur passend, immerhin wolltest du mich unbedingt finden."
„Weil es mein Job ist.", widersprach ich so ruhig wie nur möglich, „Weil du außer Kontrolle warst und die ganze Stadt auseinandergenommen hast. All die Leute, die du getötet hast...ich mein, was hast du erwartet?"
„Dass du es sein lässt, nach meiner ersten Warnung.", murmelte er, so ernst, dass ich schluckte.
„So bin ich einfach.", flüsterte ich, hilflos. Wieso konnte er mich nicht einfach gehen lassen? Wieso musst all das mir passieren?
„Und ich wollte dich auch überhaupt nicht verändern.", fuhr Joker fort und stand wieder auf, „Nur hier und da etwas...verbessern. Du hast Potential, Kassia Jester.", er leckte sich über die spröden, roten Lippen, dann hielt er mir die Hand hin.
Wissentlich lehnte ich ab und erhob mich eigenständig.
„Was meinst du mit verbessern?", fragte ich misstrauisch, ich hatte bereits Angst vor seiner Antwort.
„Das alles wirst du noch früh genug herausfinden."; schnurrte er und kam dann zu mir, nahm meine Hand und zog mich zu sich.
Ich wollte nicht, schüttelte den Kopf und hauchte ein „Bitte", aber dennoch ließ ich mich von ihm in seine Arme ziehen.
„Shh", seine Stimme war direkt an meinem Ohr, mein Verstand begann bereits wieder auszusetzen, bevor er begann meinen Kopf so stark gegen seinen lilanen Mantel zu pressen, dass ich keine Luft mehr bekam, bis ich schließlich das Bewusstsein verlor.

Die Tage hatte ich nicht gezählt. Es mussten Wochen sein.
Ich hatte akzeptiert, dass keiner kommen würde um mich zu retten.
Mr. J hatte es von Anfang an gesagt, ich war diejenige, die es nicht glauben wollte, also war es meine Schuld.
Ich war stark, dass wusste ich.
Aber sobald er an diesem Tag wieder kam, wusste ich, dass es keinen Zweck mehr hatte.
Die Schritte, die von weitem bereits den Boden vibrieren ließen, der Hall seines Lachens in den 4 Wänden, die mein Gefängnis waren – all das geschah und ich wusste bereits, dass heute der Tag sein würde, an dem ich aufgab.
Es wäre gelogen zu sagen, dass ich mich nur temporär entschied abzuschalten, ich wusste, dass ich, wenn ich einmal nachgab, nie wieder zurück kehren könnte.
Schlichtweg: Ich konnte den Schmerz nicht mehr ertragen. Die Angst.
Die Schuld die an mir nagte, angesichts der Tatsache, dass ich bereits so früh aufgeben musste.
Aber ohne Hoffnung, ohne Ausweg, wer könnte es mir vorwerfen, wenn ich am Ende so oder so tot sein würde.
Ich wusste nicht ob es schwer sein würde, oder überhaupt nicht möglich, aber lieber fühlte ich nichts mehr, als Schmerz. Mr. J hatte mich bereits gewarnt, dass es Konsequenzen haben würde, wenn ich versuchen würde, mich ihm zu entziehen.
Dass er noch nicht fertig war mit mir.
Ich auch noch nicht mit.
Aber ich hatte keine Wahl.
Die Tür ging auf, er betrat den Raum, lachend, als er mich auf dem Bett kauernd sah.
Als er das Messer zog, schloss ich die Augen.
Stellte mir vor, wie meine Seele sich von meinem Körper löste und stellte mir vor, alles von außen zu sehen, meinen Geist von meinem Körper zu trennen und nichts mehr zu fühlen.
„Hatte ich dir nicht gesagt, dass du hier bleiben sollst?!", hörte ich seine wütende Stimme, aber sie war bereits wie in einem Tunnel: Verhallt und weit weg.

„Kassia? Kass, kannst dumich hören? Ich liebe dich, bitte wach auf."
„Joker?"
Langsam öffnete ich die Augen.
Es war Aaron, der mich erleichtert ansah und dann seinen Kopf in der Decke übermeinem Bauch vergrub „Gott sei Dank."
Ich befand mich wieder in meinem Krankenzimmer, an den Schlauch angeschlossen.
Aaron sah mich an, nahm meine Hand und drückte sie so fest, dass es wehtat.
„Ich dachte schon, ich hätte dich verloren, was machst du nur, Kass?", hauchteer beugte sich vor und küsste mich.
Ich erwiderte den Kuss, es war der erste, seit man mich gefunden hatte.
Ich bereitete mich auf das Kribbeln und die Wärme in meinem Bauch vor, die sichlangsam über alle meine Muskeln ausbreitete, auf den süßen Geschmack seinerLippen auf meinen.
Ich öffnete die Augen.
Und fühlte rein gar nichts. 

"You're going mad"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt