Ein Verdammtes Jahr

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Ein Jahr ist es nun her, seit ich Narnia verlassen habe, seit ich Peter verlassen habe. Es schmerzt immer noch in meiner Brust, wenn ich an die schöne Zeit zurückdenke, die wir hatten. Das schlimme ist, dass ich bereits beginne einige Dinge zu vergessen. Ich will sie mir ins Gedächtnis rufen, aber sie verschwimmen immer wieder vor meinem inneren Auge. Ich habe Angst, dass sie irgendwann vielleicht komplett verschwinden werden, dass ich manches einfach nicht mehr weiß. Das einzige was mich noch an Narnia erinnert, sind die Ringe. Der Silbernen mit dem Larimar in der Mitte, den ich einst von Peter bekommen habe und den ich noch immer am Finger trage. Und die Ringe des Schicksals, die mich damals nach Narnia gebracht haben. Sicher sind meine Haare noch immer weiß, das bemerke ich jedes Mal, wenn die Leute mich in der Öffentlichkeit dumm ansehen. Aber das werden sie vermutlich immer bleiben. Jedoch hängen an ihnen nicht so viele Erinnerungen.

Ich sitze gerade auf der Couch meiner Großmutter. Ja sie lebt auch noch, aber sie wird nicht mehr lange haben, wie mir ein Arzt erst vor ein paar Wochen in einem vier Augen Gespräch mittgeteilt hat. Sie liegt in ihrem Bett und schläft, aber den erholsamen Schlaf, den das Morphium ihr verleiht, gönne ich ihr. Sie soll keine Schmerzen haben. Ich weiß nicht, was ich machen werde, wenn sie einmal nicht mehr ist. Vielleicht bleibe ich einfach hier, in ihrem geheimnisvollen, alten Haus, in dem so viele Erinnerungen stecken. Vielleicht werde ich es aber auch genau wegen diesen Erinnerungen nicht über mein Herz bringen, hier weiter zu leben. Ich mache immer noch für sie die Arbeit, mehr denn je. Wir reden noch oft über Narnia, ich und sie. Aber sie scheint immer wieder Dinge zu vergessen, fragt mich, wann sie Peter denn endlich kennenlernen dürfe, da ich schon so viel von ihm erzählt habe. Das sind dann die Momente, in denen sie mich schmerzhaft daran erinnert, dass sie Peter niemals kennen lernen wird. Das noch nicht einmal feststeht, ob ich jemals wieder nach Narnia kommen werde. Auch wenn ich es tief in meinem Herzen noch immer hoffe.

Melanie und ich halten täglichen Telefonkontakt. Über das, was geschehen ist, sprechen wir fast nie bis gar nicht. Ich glaube, sie hat den Glauben schon längst verloren. Den Glauben an Narnia. Sie denkt wohl, dass das alles damals ihrer Fantasie entsprungen sein muss. Gesehen haben wir uns seit damals aber nicht mehr. Die Entfernung zwischen unseren beiden Wohnorten ist einfach zu groß. Ich kann meine Großmutter für ein paar Stunden alleine lassen, wenn ich zu Einkaufen gehe zum Beispiel. Aber nicht für Tage, die Melanie und ich zusammen bräuchten.

„Wann wirst du mich wieder zurück bringen?", gedankenverloren streiche ich über den geheimnisvoll schimmernden Stein des roten Ringes, der zusammen mit seinem Gegenstück an einer Kette um meinen Hals hängt. Eine weiße Sträne fällt mir ins Gesicht, als ich mich erhebe, um nach Grans zu sehen. Schnell schnappe ich mir einen Haargummi, der zuvor an meinem Handgelenk Platz gefunden hatte, und binde mir die Haare zurück. Seit ich aus Narnia zurückgekommen bin, habe ich sie nicht mehr richtig schneiden lassen. Nur noch die Spitzen. In dem magischen Land, habe ich sie auch stets wachsen lassen, also warum hier nicht? Dementsprechend lange sind sie auch, was manchmal ziemliche Umstände zur Folge hat. Aber ich ignoriere sie gekonnt.

Ich laufe die große, breite Treppe hinauf, die zu den Korridor mit den Schlafzimmern führt. Sie besteht aus dunklen Holz, bei dem man an manchen Stellen sein alter nur ahnen kann, und ist mit einem roten, gut erhaltenen Läufer bedeckt, der sich quer durch das Haus über alle Flure und Treppen zieht. Das Geländer der alten Holztreppe ist kunstvoll gearbeitet, mit vielen Schnörkeln, so wie man sie früher in reichen Häusern hatte. Ich habe den Treppenabsatz erreicht, nun schleiche ich mich leise, falls Großmutter noch schläft über den Flur. An einem großen, goldenen Wandspiegel bleibe ich jedoch stehen. Ich schaue hinein. Äußerlich erkennt man, dass ich ein Jahr älter geworden bin. Ich sehe reifer und erwachsener aus. Sieht man mir jedoch in die Augen, dann bemerkt man darin die Spuren des Lebens, dass ich in Narnia hatte. Dieses Land hat mich verändert. Ich habe viele Erfahrungen gemacht, gute und schlechte. Habe neue Freundschaften geschlossen, die Welt erkundet, und ich habe viel gelernt. Aber auch Kleidungsstil und Erscheinungsbild haben sich geändert. Ich mache mehr Sport als früher. Kleide mich eleganter. Als ich meinen Blick von den schwarzen Stiefeletten, über die bequeme Jeans gleiten lasse, die ich anhabe, bleiben meine Augen schließlich an meinem Pulli hängen. Genau an der Stelle, an der ich meine Ringe spüre, kann ich ein rotes leuchten wahrnehmen. Das kann nicht sein! Schnell schwenke ich meinen Kopf nach unten und ziehe den Lederriemen aus meinem Ausschnitt. Tatsächlich! Der Ring leuchtet! Ich weiß was jetzt kommt. Das Licht wird immer heller, bis ich schließlich nur noch rot sehe. Ich empfange die Ohnmacht wie einen alten Freund, den man lange nicht mehr hesehen hat, und lasse mich einfach von ihr tragen. Zurück nach Narnia, nach Hause. Zurück zu Peter, meinem Herz!

Die Rückkehr der RetterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt