3. Klavier

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PoV Manuel

Unruhig scharrte ich mit den Spitzen meiner Schuhe über den Asphalt. Die Hände hatte ich in den Taschen meiner Jacke vergraben, während ich auf den nächsten Bus wartete. Es war ein komisches Gefühl, hier ganz alleine zu stehen. Keine anderen Schüler, niemand. Ganz alleine.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein Bus mit quietschenden Reifen an der Haltestelle ankam. Ich hob den Kopf. Es war der falsche Bus. Dennoch stieg ich ein. Ich wollte nicht länger an der Haltestelle der Schule warten, wollte nicht länger dort stehen, wo Michael noch so nah war.
Der Bus war fast leer. Keine anderen Schüler. Natürlich nicht. Es war gerade einmal halb zehn morgens.
Ich setzte mich ans Fenster und blickte nachdenklich nach draußen auf die Straßen Kölns, während der Bus ruckelnd anfuhr und mich wegbrachte. Weg von dieser Schule, weg von Michael. Dass ich dabei in die falsche Richtung fuhr, weiter von zu Hause weg, war mir im Moment egal. Nach etwa zehn Minuten Fahrt, die sich irgendwie viel länger angefühlt hatten, stieg ich wahllos an irgendeiner Station aus.
Ich blickte mich um und erkannte, dass mir die Gegend keineswegs unbekannt war. Ein paar Straßen weiter wohnte Dario. Mein bester Freund. Einer der wenigen, die sich mit mir abgaben, und mit Abstand der liebste und gutherzigste Mensch den ich kannte.
Ich war unbewusst an der Haltestelle ausgestiegen, die ich immer nahm, wenn ich Dario besuchte.
Ich seufzte leise. Wie gerne wäre ich jetzt zu meinem besten Freund gegangen. Doch er hatte ja um diese Zeit Unterricht.
Dario und ich gingen auf unterschiedliche Schulen. Und ich verfluchte diese Tatsache jedes Mal. Jeden Morgen, wenn ich alleine im Bus saß, wenn ich alleine zur Schule ging, alleine auf dem Pausenhof stand, verfluchte ich die Tatsache, dass Dario nicht bei mir war.
Mit Dario war alles so leicht. Mit ihm konnte ich lachen. Abschalten. Einfach alles vergessen. Und wenn ich einmal nicht vergessen konnte, war er für mich da. Mit Dario konnte ich über alles reden. Ich konnte mich so glücklich schätzen, dass ich ihn hatte.
Ich blickte die Straße auf und ab, in der Hoffnung, den nächsten Bus zu sehen.
Mir fiel auf, dass ich, seit ich heute Morgen das Haus verlassen hatte, nicht mehr geredet hatte. Kein einziges Wort war mir über die Lippen gekommen. Wie lange ich es wohl schaffen würde, stumm zu bleiben? Einfach nichts zu sagen? Würde es jemandem auffallen? In der Schule bestimmt nicht. Schließlich war es auch heute niemandem aufgefallen.
Die Ankunft des Busses riss mich aus meinen düsteren Gedanken und als er vor mir hielt, warf ich einen letzten Blick zurück, ehe ich einstieg, diesmal in die richtige Linie, die mich nach Hause bringen würde.
Eine gute halbe Stunde später sperrte ich die Haustür auf und trat in die Wohnung. Ich zog meine Schuhe aus und lief durch den Flur in mein Zimmer. Ich warf meine Tasche in eine Ecke und ließ mich auf mein Bett fallen, wobei ich schmerzhaft das Gesicht verzog, da meine Rippen wieder wehtaten. Behutsam schwang ich meine Beine auf das Bett, da sie noch immer bei jeder Bewegung schmerzten und schlang die Arme um die Brust. Dabei scheuerte der Stoff meiner Jacke wieder unangenehm über meine aufgeschürften Ellbogen. Vorsichtig schlüpfte ich mit den Armen aus der Jacke und verknotete die schwarz-blauen Ärmel über meiner Brust. Die Kapuze behielt ich an.
So schlief ich ein, die Arme wie zum Schutz um meinen Oberkörper geschlungen.

Als ich wieder aufwachte, war der frühe Nachmittag angebrochen. Die Sonne schien durch die halb geöffneten Rollos auf mein Gesicht.
Ich kniff die Augen leicht zusammen und setzte mich auf. Die Kapuze war mir vom Kopf gerutscht und meine Haare hingen mir wirr ins Gesicht. Ich strich mir eine Strähne aus den Augen, ehe ich aufstand und die Jacke, die mir noch über den Schultern hing, über die Lehne meines Schreibtischstuhls hängte.
Ich lief ins Bad und kämmte mir ein paar Mal durch meine zerzausten Haare. Als ich in den Spiegel sah, bemerkte ich, dass meine Lippe während ich geschlafen hatte wieder aufgerissen war. Ich drehte den Wasserhahn auf und hielt meine Finger unter das lauwarme Wasser, um das getrocknete Blut damit wegzuwischen. An der Stelle, wo ich mir das Kinn aufgeschürft hatte, hatte sich eine dünne Kruste gebildet. Ich wandte den Blick vom Spiegel ab und fuhr behutsam mit den Fingern über meine Unterarme. Die Haut war noch immer gerötet und brannte leicht, als ich sie berührte. Mein Ellbogen war blau und lila angelaufen.
Frustriert atmete ich aus und lief in mein Zimmer zurück, wo ich mich wieder auf mein Bett fallen ließ. Ich kramte meinen iPod aus meiner Hosentasche und schloss ihn an meine Lautsprecherboxen an. Während die Musik zu spielen begann, lehnte ich mich an die Wand und blickte aus dem Fenster. Meine Finger tippten im Takt zur Musik auf die Matratze. Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dasaß. Meine Finger begannen, sich von der Musik loszulösen, ihre eigene Melodie zu spielen. Ich öffnete die Augen. Mein Blick fiel auf das Klavier.
Ich stand auf, schaltete die Musik aus und setzte mich auf den kleinen Hocker. Noten hatte ich keine, doch ich brauchte sie auch nicht. Ich brachte mir alles selbst bei und behielt die Töne, die ich spielen musste, im Kopf.
Ich begann zu spielen. Und während die Töne von 'Requiem for a Dream' erklangen, konzentrierte ich mich voll und ganz auf meine Hände auf den Tasten, blendete alles andere aus, vergaß die Welt um mich herum.
Als die Haustür ins Schloss fiel, zuckte ich zusammen. Meine Finger verfehlten die Tasten und ein lauter, schiefer Ton zerriss die Harmonie des Liedes und klang viel zu lange in meinem Zimmer nach. Ich wollte aufstehen und stieß dabei gegen das Klavier. Schmerz schoss durch mein Knie und ich sank wieder auf den Stuhl, während ich mich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu meiner Zimmertür umwandte, die soeben aufging.
Meine Mutter stand auf der Türschwelle und blickte mich verwundert an.
»Ich wusste nicht, dass zu schon zu Hause bist.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als ihr Blick auf mein Gesicht fiel.
»Oh Gott, Manuel, was ist passiert?«
Wie automatisch hob ich meine Hand zu meinem Gesicht.
»Nichts weiter«, murmelte ich und strich mir über die Lippe. »Bin die Treppe runtergefallen.«
»Du machst aber auch Sachen«, sagte meine Mutter und blickte mich vorwurfsvoll an. »Schlimm?«
Ich schüttelte den Kopf. »Glaub nicht«, murmelte ich, so leise, dass ich nicht sicher war, ob meine Mutter es überhaupt gehört hatte.
Sie blickte mich einen Moment lang nachdenklich an, dann wandte sie sich zum Gehen.
»Wenn du was brauchst, ich bin im Wohnzimmer«, sagte sie, ehe sie die Tür hinter sich schloss.
Ich blieb einige Sekunden lang sitzen, und während ich so still dasaß, hallten mir meine eigenen Worte durch den Kopf.
»Bin die Treppe runtergefallen.«


It's never too late - ZomGerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt