10. Unbeholfen

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PoV Dario


»Manu? Du kannst die Augen aufmachen.«
Mit einem flauen Gefühl im Magen legte ich die Schere beiseite. Um uns herum auf dem Boden lagen Strähnen dunkler Haare.
Manu reagierte zuerst kaum, dann öffnete er langsam, zögernd die Augen. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck musterte er sein Spiegelbild.
Seine Haare waren nun kurz, viel kürzer als zuvor, aber noch immer etwas länger als meine und um einiges unordentlicher. Die Strähnen standen voneinander ab, da ich es nicht geschafft hatte, sie gleich lang zu schneiden.
Unordentlich, ungewohnt, aber nicht schlecht.
Manus Augen waren auf sein Spiegelbild geheftet, huschten hin und her, er öffnete leicht den Mund. »I-ich -«
Manu hob zögernd eine Hand und fuhr sich unbeholfen durch die frisch geschnittenen Haare.
»Manu, es tut mir leid.«
»Nein, es ist ... ich weiß nicht. Ungewohnt, schätze ich ...«
Er blickte mich durch den Spiegel hindurch an, dann wandte er sich um und fiel mir mit einem gemurmelten »Danke, Dario« um den Hals.
»Keine Sorge, das wird schon«, meinte ich leise zu Manu und strich ihm über den Rücken.

Wir blieben den ganzen restlichen Tag über in meinem Zimmer. Manu wirkte wieder unbeschwerter und fröhlicher, doch ich kannte ihn gut genug um zu sehen, dass er noch immer unruhig und nervös war.
Der Gedanke an morgen machte ihm zu schaffen, und es tat weh, ihn so zu sehen.
Als es abends langsam Zeit wurde, dass Manu wieder nach Hause musste, packten er seine Sachen zusammen, während ich das Chaos in meinem Zimmer aufräumte.
Schließlich zog Manu den Reißverschluss seiner Sporttasche zu und machte Anstalten, meine Jacke, die er immer noch trug, auszuziehen.
»Du kannst sie behalten, wenn du willst«, erwiderte ich. »Mir ist sie sowieso zu klein.«
»... und mir immer noch zu groß«, murmelte Manu, was uns beide zum Lachen brachte.

Wir blieben noch eine Weile auf meinem Bett liegen und redeten, bis Manu langsam wirklich nach Hause musste. Schwermütig stand er auf und zog mich hoch. Gemeinsam liefen wir die Treppen hinunter, als just in diesem Moment meine kleine Schwester aus dem Wohnzimmer stürmte. Sie erkannte uns und blieb stehen. Ihre Augen wurden groß, als sie Manu sah.
Manu neben mir stockte und fuhr sich nervös durch die Haare. Alarmiert blickte ich zu meiner Schwester, deren Unterlippe verdächtig zu zittern begann. Ich hätte es wissen sollen. Ich wusste, wie sehr die Kleine Manu und seine Haare liebte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
In einem Versuch, die Situation zu entschärfen, zog ich Manu weiter die Treppe hinunter, doch meine Schwester hatte bereits mit zitternder Stimme zu sprechen begonnen:
»Warum hast du das gemacht?«
»I-ich ...«
Manu schluckte und sah weg.
»Ich hab sie ihm geschnitten«, sagte ich.
Meine Schwester wandte sich mir zu und blickte zu mir hoch. Tränen rannen nun über ihr Gesicht.
»Warum?«
Ich lächelte gequält.
»Du bist so blöd, ich hasse dich!«
Halb schreiend, halb weinend, stürzte sie sich auf mich und versuchte, mich mit ihren kleinen Fäusten zu schlagen.
Manu blickte hilflos auf meine weinende Schwester. Seine Augen glänzten.
»Shhht, Kleine. Lass gut sein, bitte«, versuchte ich, meine Schwester zu beruhigen.
Manu sank auf die Treppenstufe und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Bitte, beruhig dich«, flehte ich verzweifelt, doch meine Schwester machte keine Anstalten, sich zu beruhigen. Schließlich hob ich sie kurzerhand hoch. Zuerst schlug und trat sie um sich, dann hörte sie plötzlich auf und hing nur noch weinend in meinen Armen.
Ich brachte sie zurück ins Wohnzimmer und versuchte, sie so gut es ging zu beruhigen - vergeblich.
Als ich zurück auf den Flur trat, saß Manu immer noch auf der Treppenstufe. Er fuhr sich verzweifelt durch die frisch geschnittenen Haare und blickte hilflos zu mir hoch. Die Strähnen standen in alle Richtungen ab. Er hatte Tränen in den Augen.


PoV Manuel


Mit einem hohlen Gefühl in der Brust verabschiedete ich mich an der Bushaltestelle von Dario. Ich sah meinem besten Freund nach, als er die Straße hinunter lief. Kurz bevor er zwischen den Häusern verschwand, drehte er sich noch einmal um und hob die Hand zum Gruß. Ich lächelte leicht und erwiderte die Geste. Dann war Dario verschwunden.
Auf dem Heimweg ging mir das verzweifelte, tränenüberströmte Gesicht von Darios Schwester nicht mehr aus dem Kopf.

In dieser Nacht schlief ich kaum.

It's never too late - ZomGerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt