5. Beobachtung

342 30 2
                                    

PoV Michael

Gelangweilt lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, während ich dem Gespräch meiner Freunde folgte. Ich gähnte und kippelte leicht vor und zurück, mein Blick checkte die Uhrzeit. Noch fünf Minuten bis Unterrichtsbeginn.
Ich sah aus der Aula und beobachtete die ankommenden Schüler, als ich einen mir nur allzu bekannten blau-schwarz gestreiften Pullover erblickte. Manuel lief über den Schulhof. Als er kurz durch das Fenster blickte, stockte ich. War das eine Schürfwunde? Doch ehe ich sein Gesicht genauer sehen konnte, hatte er den Blick schon wieder abgewandt. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht und er lief mit gesenktem Kopf an der Aula vorbei.
Ich wandte den Blick ab und ließ den Stuhl wieder in seine ursprüngliche Position kippen. Weshalb hatte Manuel eine Schürfwunde im Gesicht? Ich hatte ihn gestern umgerempelt, aber welcher Mensch fiel bitteschön auf sein Gesicht? Ich beschloss, ihn heute genauer unter die Lupe zu nehmen.
Dieser Vorsatz erwies sich als schwieriger als gedacht, denn Manuel ging mir aus dem Weg, wo er nur konnte. Er verschwand aus meinem Sichtfeld, sobald ich auftauchte und kreuzte meinen Blick kein einziges Mal mit seinen Augen. Also hatte die kleine Lektion von gestern doch Wirkung gezeigt und ihn ein wenig eingeschüchtert.
In der Pause verließ Manuel als Erster das Klassenzimmer. Auch ich packte meine Sachen zusammen, doch als ich auf den Schulhof trat, konnte ich ihn nirgends sehen. Unschlüssig blickte ich umher, als mir jemand auf die Schulter klopfte. Ich wandte mich um und erkannte Fabian und Maurice.
»Kommst du?«, sagte Letzterer und wir machten uns auf den allmorgendlichen Weg zum Kaffeeautomaten.
Für meinen Geschmack viel zu früh klingelte es eine Viertelstunde später zum Ende der Pause und lustlos machten wir uns auf zum nächsten Klassenzimmer. Als ich den Raum betrat, bemerkte ich zuerst Manuel nicht, der auf seinem Platz saß und aus dem Fenster starrte. Er schien nicht mitbekommen zu haben, dass ich den Klassenraum betreten hatte und so nahm ich unbemerkt meinen Platz hinter ihm ein. Als ich meine Tasche auf meinen Tisch knallte, schreckte er kurz zusammen, wandte sich jedoch nicht zu mir um. Ich sah, wie er sich verkrampfte, und dabei konnte ich einen Blick auf seine zuvor verschränkten Hände werfen.
Seine Handflächen waren aufgeschürft und auch auf seinem rechten Handrücken waren deutlich dunkelrote Kratzer zu erkennen, die sich bin zum Ärmel seines Pullovers hin zogen. Sein Handgelenk war blau angelaufen.
Mein Blick huschte kurz zu meinen Freunden, dann wieder zu Manuel. Ich hatte nicht gedacht, dass er sich so krass verletzen würde. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Während dem Unterricht fiel mir auf, wie vorsichtig Manuel seinen Stift hielt und wie behutsam er seine Arme bewegte. Ich lehnte mich zurück und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Immerhin hatte er seine Lektion scheinbar gelernt. So schnell würde er mir und meinen Freunden wohl nicht mehr in die Quere kommen. Und so schlimm konnten seine Verletzungen ja nicht sein, immerhin war er noch am Leben und die paar Kratzer brachten ihn schon nicht um.
In den folgenden Stunden beachtete ich Manuel kaum mehr und auch sonst verlief der Unterricht relativ ereignislos. Als es jedoch zum Stundenwechsel wieder lauter in der Klasse wurde und alle ihre Mathesachen herauskramten, beschloss ich, Manuel zur Rede zu stellen. Der Sturz rechtfertigte immerhin seine Verletzungen an den Händen, doch es war mir nach wie vor ein Rätsel, wie er sich die Schürfwunde im Gesicht zugezogen hatte. Also stand ich auf, um dem Platz meines Mitschülers einen kleinen Besuch abzustatten. Fabian neben mir erhob sich ebenfalls grinsend.
»Junge, was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Manuel reagierte kaum auf meine Stimme und während Fabian mit einer spöttischen Bemerkung auf den Lippen nach seiner Brille griff, musterte ich sein Gesicht genauer. Von nahem sah die Schürfwunde an seinem Kinn doch ein wenig schlimmer aus als ich gedacht hatte. Nun blickte er zu Fabian hoch und murmelte: »Gib sie wieder her.«
Seine Augen huschten unsicher zu mir und dann wieder zu Fabian, der gerade Anstalten machte, Manuels Brille einzustecken. Stirnrunzelnd beobachtete ich ihn, als auch schon unser Mathelehrer den Raum betrat und Fabian Manuel seine Brille wieder zuwarf, ehe er sich mit desinteressierter Miene abwandte. Auch ich machte mich wieder auf den Weg zu meinem Platz, doch aus dem Augenwinkel sah ich, dass Manuel schmerzhaft das Gesicht verzog, als er die Brille auffing.
Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, doch ich hatte noch immer keine Antwort auf meine Frage erhalten. Ich beschloss, Manuel nach dem Unterricht zur Rede zu stellen.
Als der erlösende Schulgong endlich das Wochenende ankündigte, verließ ich zusammen mit Maurice und Fabian das Klassenzimmer und schlenderte mit den beiden zu der Überdachung neben dem Gebäude, wo die Schüler ihre Fahrräder abstellten. Während Maurice auf sein Motorrad stieg, behielt ich die Tür des Schulgebäudes im Auge. Es dauerte nicht lange, da verließ auch schon Manuel das Gebäude. Er blickte sich suchend um, doch in unsere Richtung sah er nicht. Dann lief er weiter und bog hinter das Sportgebäude ab.
Ich verabschiedete mich mit einem Handschlag von Fabian und einem Kopfnicken von Maurice, der soeben seine Maschine startete, und folgte ihm. Noch ehe er die Sporthallen passiert hatte, holte ich ihn ein ich ihn und hielt ihn an der Schulter zurück. »Hey!«
Manuel wirbelte herum. »Fass mich nicht an!«, fuhr er mich an und stieß mich von sich.
Überrumpelt stolperte ich ein paar Schritte zurück.
Manuel sah kurz auf seine eigenen Hände, als wäre er selbst überrascht, was sie soeben getan hatten, dann blickte er mit großen Augen leicht verängstigt zu mir.
Er war zu weit gegangen. Mit einem Schritt war ich bei ihm und stieß ihn hart gegen die Mauer hinter ihm.
»Was fällt dir ein?« Wut durchströmte mich.
Manuel schnappte erschrocken nach Luft, als ich ihn gegen die Mauer drückte und seinem Gesicht mit meinem gefährlich nahe kam.
»Mach das nie wieder«, knurrte ich bedrohlich und blickte in sein verängstigtes Gesicht.
Mit Genugtuung beobachtete ich, wie er sich verzweifelt gegen meinen Griff wehrte und ein triumphierendes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht.
Doch plötzlich wehrte Manuel sich nicht mehr. Er starrte für den Bruchteil einer Sekunde zu mir hoch, dann kam er meinem Gesicht mit seinem näher und drückte seine Lippen auf meine.
Es durchfuhr meinen Körper wie ein Stromstoß. Wie elektrisiert ließ ich ihn sofort los und er schlüpfte blitzschnell unter meinem noch ausgestreckten hindurch und rannte über den Schulhof davon.
Wie paralysiert wischte ich mir mit dem Ärmel über den Mund und starrte ihm nach. Was zur Hölle war das?
Nach einigen Sekunden löste ich mich aus meiner Starre. Langsam lief ich auf das Schultor zu und blickte mich unruhig um. Manuel war verschwunden. Zögernd blieb ich einen Augenblick lang stehen, dann machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Ungeduldig wartete ich auf den Bus, blickte dabei die Straße entlang. Als mein Blick auf das Bushäuschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Dort stand Manuel. Er hob den Kopf. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke, dann sah ich beunruhigt weg.
Ich wagte es nicht, erneut hinüber zu sehen. Meine Kiefer mahlten aufeinander, während ich mir darüber den Kopf zerbrach, was geschehen war.
Das gab Rache.


It's never too late - ZomGerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt