4. »Wehr dich!«

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PoV Manuel

Als ich abends in meinem Bett lag, konnte ich nicht schlafen. Mit weit geöffneten Augen starrte ich an die Decke, während ich reglos dalag.
Ich drehte mich auf die Seite, versuchte, eine angenehmere Liegeposition zu finden, doch mein schmerzender Brustkorb machte es mir schwer, da ich ihn nicht belasten konnte. Schließlich lag ich wieder auf dem Rücken und blickte frustriert an die Decke. Ich hasste es, auf dem Rücken zu schlafen. Viel lieber rollte ich mich seitlich zusammen, vergrub das Gesicht in meinem Kissen oder blickte aus dem Fenster, wenn ich nicht schlafen konnte.
Seufzend setzte ich mich auf und griff nach meinem Handy, das auf meinem Nachttisch lag. Ich öffnete den Chat mit Dario.
"Bist du noch wach?", tippte ich ein und schickte die Nachricht ab. Es dauerte keine Minute, bis Dario online kam. Ich wollte mich im Schneidersitz auf mein Bett setzen, so wie ich es immer tat, wenn ich mit Dario schrieb. Doch meine Knie und inzwischen blauen Schienbeine schmerzten, sobald ich die Beine anwinkelte. Also legte ich stattdessen mein Kopfkissen hinter meinen Rücken und lehnte mich an die Wand, während ich auf Darios Antwort wartete.
"Ja. Alles in Ordnung bei dir?", schrieb er.
"Ja", tippte ich ein, doch dann zögerte ich und löschte die Nachricht wieder. Nein, es war nicht alles in Ordnung. Sollte ich es ihm erzählen? Noch während ich überlegte, was ich am besten schreiben sollte, tauchte eine weitere Nachricht von Dario auf.
"Manu, was ist los?"
In diesem Moment wurde mir wieder einmal bewusst, dass Dario der beste Freund war, den ich mir vorstellen konnte. Er wusste sofort, wenn es mir nicht gut ging. Ich war so unendlich froh, dass ich ihn in diesem Moment hatte.
"Mir tut alles weh..."
"Soll ich vorbeikommen?"
, fragte Dario sofort.
Ich musste unwillkürlich lächeln.
"Es ist viel zu spät, Dario", schrieb ich schweren Herzens zurück. "Es ist fast zwölf."
"Was ist passiert?", fragte Dario.
Ich atmete einmal tief durch, dann begann ich, ihm von den heutigen Ereignissen zu erzählen.
"Oh Mann, Manu. Das darfst du dir doch nicht gefallen lassen", erwiderte Dario, nachdem er mich alles erzählen lassen hatte.
Ich lachte trocken auf.
"Was soll ich denn machen?", schrieb ich zurück.
"Wehr dich!", schrieb er.
"Ich kann das nicht, Dario. Was soll ich denn gegen die drei ausrichten?", erwiderte ich und starrte resigniert auf mein Handy.
"Du musst dich wehren, Manu. Wenn du es jetzt nicht tust, werden sie damit immer weitermachen. Zeig ihnen, dass du nicht alles mit dir machen lässt. Verdammt, wehr dich, Manu!"
Ich raufte mir verzweifelt die Haare. Er hatte so recht. So durfte es nicht weitergehen. Wenn es doch nur so einfach wäre, sich zu wehren.
"Manu, bitte. Ich will nicht, dass du daran kaputtgehst", schrieb Dario.
Als ich diese Worte las, sah ich das verzweifelte Gesicht meines besten Freundes vor meinen Augen.
"Es tut mir leid. Ich kann nicht", schrieb ich. Dann ging ich offline.
Ich warf mein Handy auf den Nachttisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile bemerkte ich, dass meine Augen langsam schwerer wurden und die Müdigkeit sich allmählich bemerkbar machte. Ich legte das Kissen wieder an seinen angestammten Platz und ließ mich zurück in mein Bett sinken. Trotz meiner Müdigkeit dauerte es länger als sonst, bis ich endlich in den Schlaf fiel.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, verzog ich schmerzhaft das Gesicht. Ich hatte mich im Schlaf auf den Bauch gedreht und meine Rippen schmerzten höllisch. Ich setzte mich auf und griff nach meinem Handy. Dario hatte mir gestern noch zwei Nachrichten geschrieben.
"Bitte, Manu. Zeig ihnen, dass sie zu weit gehen. Du musst dir nicht alles gefallen lassen."
"Wenn irgendetwas ist, ich bin da, okay?"

»Ich weiß, Dario«, murmelte ich. »Ich weiß.« Und ich war ihm unendlich dankbar dafür.

Als ich an diesem Freitag aus dem Bus ausstieg und zur Schule lief, gingen mir Darios Worte nicht aus dem Kopf. Er hatte Recht. Ich durfte mir nicht alles gefallen lassen.
Ich straffte die Schultern und hob den Kopf. Dann atmete ich tief durch und trat durch das Schultor. Doch als ich an der Aula vorbeilief und Michael und seine Freunde darin sitzen sah, sackte mein Kopf fast schon automatisch nach vorne und meine Haare fielen mir ins Gesicht und verdeckten mir die Sicht zu meinen Mitschülern.
Es war so schwer.

Den ganzen Tag über ging ich Michael aus dem Weg.
Nach den Unterrichtsstunden verließ ich als erster den Klassenraum und nach Ende der Pausen verschwand ich möglichst schnell vom Schulhof. Von Treppen hielt ich mich fern, sobald Michael oder einer seiner Freunde in der Nähe war. Und bis zur letzten Stunde funktionierte es erstaunlich gut.
»Junge, was ist mit deinem Gesicht passiert?«, ertönte Michaels Stimme über mir, als ich gerade meine Schulsachen für die letzte Stunde Mathe herausholte. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, sah ihn nicht an und warf meinen Block auf den Tisch.
»Er sieht dich nicht«, meinte Fabian mit spöttischer Stimme und schnappte sich meine Brille, die ich auf den Tisch vor mir abgelegt hatte. Ich blickte hoch in sein grinsendes Gesicht.
»Gib sie wieder her«, sagte ich leise.
»Krass, er kann mich sehen«, sagte Fabian und wandte sich mit durchtriebener Miene seinem Freund zu. »Dann braucht er die doch gar nicht mehr ...« Er machte Anstalten, meine Brille einzustecken, als die Tür aufschlug und unser Mathelehrer den Raum betrat. Fabian warf mir die Brille zu, ich fing sie ungeschickt auf. Er und Michael wandten sich von meinem Tisch ab und kehrten zu ihren Plätzen zurück.
Nach dem Unterricht ließ ich mir mit dem Einpacken Zeit und verließ als Letzter das Klassenzimmer. Michael und seine Freunde waren nirgends zu sehen. Trotzdem beschloss ich, hinter dem Sportgebäude entlang zu laufen, sodass ich ihnen auf dem Schulhof nicht begegnete.
Zu meiner Rechten befand sich die Backsteinmauer, auf der ich schon so viele Pausen verbracht hatte. Ich lief an der Sporthalle vorbei, als ich Schritte hinter mir vernahm. Noch ehe ich mich umdrehte, wusste ich, wer es war.
»Hey!«, rief Michael und riss mich an der Schulter herum.
»Fass mich nicht an!«, fuhr ich ihn an und stieß ihn mit beiden Händen von mir. Einen Moment lang huschte Erstaunen über sein Gesicht, dann trat er blitzschnell auf mich zu, packte mich an den Schultern und drückte mich gegen die Mauer hinter mir.
»Was fällt dir ein?« Sein Gesicht war wutverzerrt. Ich schnappte nach Luft, sein Unterarm drückte stark auf meinen Brustkorb, während Michael mich mit funkelnden Augen ansah.
»Mach das nie wieder«, knurrte er und ich spürte, wie sich die Mauer stärker gegen meinen Rücken drückte.
Panisch versuchte ich, seinem Griff zu entkommen. Ich zerrte an seinen Handgelenken, doch er war zu stark. Ich hatte keine Chance.
Das war der Moment, in dem mir eine wahnwitzige Idee durch den Kopf schoss. Ich dachte nicht länger darüber nach, was ich tat. Ich löste meinen Kopf von der Mauer hinter mir, beugte mich vor und drückte meine Lippen auf seine. 


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Frohe Weihnachten!


It's never too late - ZomGerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt