13. Gewissen

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PoV Manuel

Er wollte nur reden.
Er wollte nur reden.

Er wollte nur reden.

Das war der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, immer und immer wieder, während ich mich überhaupt nicht mehr auf meine Hausaufgaben konzentrieren konnte. Frustriert schlug ich meine Mathesachen zu und stieß mich mit den Händen von der Schreibtischkante ab. Der Drehstuhl rollte ein Stück nach hinten, bis er vom Teppich ausgebremst wurde und sich nur noch drehte.
Wieso machte ich mir auch noch Gedanken darüber, verdammt?
Was kümmerte es mich denn, wenn Michael nur reden wollte? Ich würde jetzt ganz sicher kein schlechtes Gewissen bekommen. Nicht wegen diesem Typen. Nicht wegen dem Grund, warum ich jeden Tag das Schultor mit einem unwohlen Gefühl in der Brust passieren musste. Das war es nicht wert. Das war er nicht wert.
Ich starrte an meine Zimmerwand, während der Schreibtischstuhl langsam aufhörte sich zu drehen.
Nein, ich hatte im Moment wirklich andere Probleme. Eine Tatsache hatte sich nämlich gerade wieder in mein Gedächtnis gedrängt. Eine Tatsache, die ich bis jetzt vehement zu verdrängen versucht hatte: ich hatte morgen Sport. Sport zusammen mit Michael.

Als ich am nächsten Morgen an der Aula vorbeilief, tat ich mein Bestes, um Michaels Anwesenheit auszublenden, und es klappte erstaunlich gut. Erste Hürde geschafft. Die ersten beiden Stunden hatten wir getrennt Unterricht.
Und dennoch, als ich in Ethik saß und abwesend meinen Kugelschreiber zwischen den Fingern drehte, konnte ich nicht anders, als mir Gedanken zu machen. Ich wusste nicht, was Michael nun vorhatte. Hatte er gestern wirklich nur reden wollen? Oder war ich gerade einfach nur unglaublich naiv? Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass ich mich nicht mehr verstecken konnte, und wenn ich ehrlich war, wollte ich das auch nicht mehr.
Die Minuten vergingen und ich bemerkte, dass ich ohne es zu wollen immer nervöser wurde, hatten die Sportstunden Michael doch bisher die meisten Gelegenheiten geboten, mich zu demütigen. Ich hatte oft genug mit blauen Flecken die Umkleide verlassen. Nicht schlimm, natürlich nicht. Michael hatte es nie übertrieben. Aber genügend, um mich einzuschüchtern und mir die Gewissheit zu geben, dass er, wenn er nur wollte, mir das Leben ordentlich zur Hölle machen könnte.
Ja, Michael war es, der mir von den dreien am meisten Angst einjagte, obwohl es meist die anderen beiden waren, die mir Beleidigungen an den Kopf warfen. Michael strahlte diese Dominanz aus, Michael verstand es am besten, mich mit Blicken und Taten zu verunsichern, und Michael schaffte es, mir mit einem einfachen Grinsen einen Schauer über den Rücken zu jagen.

Die Pause verbrachte ich an meinem angestammten Platz auf der Mauer unter den Holundersträuchern, wo ich hauptsächlich damit beschäftigt war, möglichst nicht an die kommende Sportstunde zu denken. Mit denkbar geringem Erfolg, wenn man bedachte, dass ich mich direkt hinter den Sporthallen befand und diese quasi mein gesamtes Blickfeld ausfüllten.
Als es zum Pausenende klingelte, ließ ich mir absichtlich Zeit, bevor ich schließlich nur sehr widerwillig von der alten Mauer sprang und das Sportgebäude umrundete, um zu den Eingängen auf der anderen Seite zu gelangen.
Michael war schon da, als ich die schwere Tür aufstieß und die Umkleide betrat. Ich heftete meinen Blick geradeaus nach vorne und lief zu meinem Stammplatz in der hinteren Ecke des Raumes, direkt unter der flackernden Leuchtstoffröhre. Weit weg von Michael - aber leider von seinem Platz aus auch sehr gut zu sehen.
Während ich mich umzog, hielt ich den Blick betont auf meine Hände gerichtet, doch als ich mein Oberteil auszog, meinte ich, Michaels Blick auf meinem Brustkorb zu spüren, wo noch immer die blauen Flecke von letzter Woche zu sehen waren. Gut so. Sollte er ruhig sehen, was er angerichtet hatte. Vielleicht würde sich irgendwann einmal doch noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen zeigen. Mit diesem Gedanken drehte ich mich ein wenig in Michaels Richtung, während ich oberkörperfrei in meiner Sporttasche nach meinem Sportshirt kramte.
Woher ich mein neues Selbstbewusstsein gewonnen hatte, wusste ich selbst nicht, doch als ich die Sporthalle betrat, war ich wirklich entschlossen, Michael endlich einmal die Stirn zu bieten.
Kaum eine Viertelstunde später begann mein Beschluss jedoch bereits ordentlich zu bröckeln, als ich von der Bank aus zusah, wie Michael mit Team Schwarz gegen Team Rot antrat. Er war gut in Basketball, keine Frage. Besser als gut, und vor allem: besser als ich. Und bei dem Gedanken, Michael auf dem Spielfeld entgegentreten zu müssen, machte sich ein sehr unwohles Gefühl in mir breit, neu erlangtes Selbstbewusstsein hin oder her. Die letzten Sportstunden hatte ich noch zu lebhaft in Erinnerung.
Nach fünfzehn Minuten wurde das Spiel abgepfiffen und die Mannschaft, die verloren hatte, räumte das Feld, um dem dritten und letzten Team Platz zu machen, die nun gegen die Gewinner in Schwarz antraten.
Nervös zupfte ich mein blaues Band zurecht, während ich aufstand und meine Position einnahm, um Michael entgegenzutreten.
Ich spielte in der Abwehr, wie immer. Ich war nicht schlecht, wirklich nicht. Basketball war nie so wirklich mein Fall gewesen, aber ich war ganz akzeptabel, ich spielte nur zu defensiv, nicht aggressiv genug. Michael war mein Problem. Denn genau so spielte er. Aggressiv. Besser konnte man es nicht beschreiben. Seine harte, grobe Spielweise schüchterte mich ein, verunsicherte mich. Und irgendwo beeindruckte sie mich vielleicht auch. Denn Michael spielte taktisch, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so aussah. Von der Bank aus konnte ich das am besten beobachten. Hinter jedem seiner Angriffe steckte eine Strategie, er spielte nicht einfach blind drauf los, wie manch anderer.
So war es auch heute, als er nach kaum einer halben Minute in Ballbesitz ging. Während er den Ball beherrscht vor sich her dribbelte, konnte ich sehen, wie seine Augen zwischen den Spielern hin und her huschten, auf der Suche nach einer Schwachstelle. Sein Blick blieb an mir hängen und sein Mund verzog sich kaum merklich zu einem Grinsen.
Ich biss die Zähne zusammen. Heute nicht.
Michael spielte gut, wie immer, und wie immer fiel es mir schwer, gegen ihn anzukommen. Aber anders als sonst war ich entschlossen dabei, es zu versuchen. Die fünfzehn Minuten waren fast vorbei, wir fünf Punkte in Rückstand, das Spiel verloren, und ich frustriert. Frustriert, weil ich nicht gegen Michael ankam.
»Letzter Angriff!«, ertönte die Stimme unseres Sportlehrers und ich stieß die Luft zwischen meinen Zähnen hindurch. Ich sah zu Michael hinüber, der in aller Seelenruhe weiterdribbelte, ehe er mit konzentriertem Blick vorstürzte und angriff. Ich beobachtete, wie er zwei unserer Spieler auswich, den Ball abgab und ihn wenige Sekunden später wieder zugepasst bekam. Als er mit sicheren Schritten auf mich zu dribbelte, trat ich entschlossen einen Schritt vor. Michael warf mir einen amüsierten Blick zu und blieb stehen. Dribbelte einige Sekunden lang auf der Stelle. Täuschte links an, täuschte rechts an, doch ich blieb vor ihm stehen. Ich sah seinen erstaunten Blick, ehe ich auf ihn zusprang, um ihm den Ball abzunehmen, im selben Moment, als Michael ansetzte, um dicht an mir vorbeizurennen. Wir stießen zusammen und es gab ein kleines, unschönes Gerangel, welches darin endete, dass ich Michael den Ball aus der Hand schlug und von seiner Schulter hart zur Seite gestoßen wurde. Schmerzhaft kam ich auf dem Hallenboden auf und rutschte auf dem Linoleum noch einen guten halben Meter weiter, ehe ich mich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufsetzte.
Der Basketball sprang hinter Michael ungeachtet ins Aus, wurde immer langsamer und rollte an der Wand entlang weiter.
Ein Pfiff ertönte. Die nächste Mannschaft wurde auf das Feld gerufen.
Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und während ich mich mit schmerzendem Handgelenk aufrappelte, konnte ich Michaels Blick auf mir spüren. Missmutig, überrascht und - nachdenklich?


It's never too late - ZomGerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt