11. »Warum?«

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PoV Manuel


Mit einem mulmigen Gefühl in der Brust lief ich zur Bushaltestelle.
Ich trug Darios Jacke, die Hände in den Taschen vergraben. Meine Haare fielen mir beim Laufen nicht mehr ins Gesicht, und irgendwie fühlte ich mich ungeschützt und nackt. Meine Augen brannten ein wenig, sie waren leicht gereizt, da ich heute zum ersten Mal seit langem wieder Kontaktlinsen trug.
Ich wollte Michael heute einfach keine Angriffsfläche bieten und deshalb war ich auch reichlich froh um Darios Jacke. In meinem schwarz-blauen Pulli würde Michael mich immer und überall sofort erkennen.

Der Bus hatte Verspätung und so war es später als sonst, als ich mit einem unguten Gefühl durch das Schultor trat. Die Aula war leer, als ich über den Schulhof lief. Es hatte bereits zum ersten Mal gegongt und meine Mitschüler waren wahrscheinlich schon vor dem Klassenzimmer. Ich wusste nicht so recht, ob ich froh darüber sein sollte.
Zögernd betrat ich das Schulgebäude und stieg die Treppen hinauf. Als ich den Flur betrat, wurde das Klassenzimmer gerade aufgeschlossen.
Michael und seine Freunde lehnten an der Wand vor der Klassenzimmertür.
Meine Hände verkrampften sich in den Taschen von Darios Jacke. Ich versuchte, die Panik niederzukämpfen, die sich in meiner Brust ausbreitete, während ich an ihnen vorbeilief.
Michael hob den Kopf. Wie automatisch fing er meinen Blick ein. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Doch Michael sah mich nur kurz an, beiläufig, fast desinteressiert, ehe er sich wieder seinen Freunden zuwandte.
Er hat mich nicht erkannt, schoss es mir durch den Kopf, während ich das Klassenzimmer betrat und mich auf meinen Platz setzte, ein seltsam leichtes Gefühl in der Brust, das meine Angst kurzfristig betäubte. Er hat mich wirklich nicht erkannt.
Je näher die Pause jedoch rückte, desto mehr nahm das unwohle Gefühl wieder überhand, das mir die Brust zuschnürte und es mir nahezu unmöglich machte, dem Unterricht zu folgen, ohne Michaels Rücken immer wieder nervöse Blicke zuzuwerfen.
Gerade beugte er sich zur Seite, als ein Mädchen etwas zu ihm sagte und sie sich dabei zu mir umwandte, und mir einen Blick zuwarf. Erschrocken erkannte ich, dass sie über mich geredet hatten, und sah weg, als Michael sich ebenfalls umwandte.
Ich fühlte mich ungeschützt ohne meine Haare, die mir Sichtschutz boten. Noch vor einer Woche hatte ich nur den Kopf ein wenig nach vorne neigen müssen und ein Vorhang von Haaren hatte mich von meiner Umwelt abgeschirmt. Auch wenn es mir nur ein Gefühl von Sicherheit gab, hasste ich den Gedanken, nicht einmal mehr die Möglichkeit zu haben, mein Gesicht zu verbergen, meine Umwelt vor mir zu verbergen und sie damit ein Stückchen unrealer zu machen.
Als es zur Pause klingelte, verschwand ich so schnell wie möglich aus dem Klassenzimmer. Auf dem Pausenhof angekommen sah ich mich unruhig um, dann steuerte ich auf die Sporthallen zu. Ich lief an dem Gebäude vorbei und zu der alten, überwucherten Steinmauer dahinter. Die Szene von Freitagnachmittag schoss mir durch den Kopf und jagte mir unweigerlich eine Gänsehaut über den Rücken beim Gedanken daran, wie ich mit ebendiesem an die Mauer gedrückt wurde.
Ich schloss kurz die Augen, um die Erinnerung zu verdrängen. Dann setzte ich einen Fuß an die Mauer und kletterte hinauf.
Hinter der Steinmauer befanden sich dichte Holundersträucher, deren Äste links und rechts von mir über die knapp mannhohe Mauer wuchsen.
Der Platz war vom Pausenhof aus nicht zu sehen. Ich hoffte inständig, dass Michael nicht gesehen hatte, wohin ich gelaufen war.
Mein Blick wanderte von der linken Seite der Sporthalle zur rechten, halb in der Erwartung, Michael würde jeden Moment auf einer der Seiten auftauchen.
Ich stützte meine Hände auf die Mauer und sah hoch in den bewölkten Himmel. Es roch nach Regen. Ich war froh um Darios Jacke, denn es wehte ein leichter, kalter Wind.
Ich behielt die Sporthalle im Blick, sah unruhig von der einen Seite zur anderen. Doch die Pause verging, ohne dass Michael oder einer seiner Freunde auftauchte.
Als es zum Ende der Pause läutete und ich Anstalten machte, von der Mauer zu springen, stockte ich; ich hatte meine Tasche im Klassenzimmer vergessen.
Unterdrückt fluchte ich auf. Normalerweise ließ ich meine Tasche nicht mehr unbeaufsichtigt, seit ich sie einmal nach der Pause von der Klassenzimmerdecke hängend wiedergefunden hatte.
Ich sprang von der Mauer und machte mich auf den Weg zum Klassenzimmer zurück, gedanklich schloss ich bereits damit ab, meine Bücher und Hefte in Wasser stehend aufzufinden.
Als ich das Klassenzimmer betrat, lag meine Tasche noch unter dem Tisch, wie ich sie zurückgelassen hatte. Während ich zu meinem Platz zurücklief, bemerkte ich, wie zwei Mädchen, die gerade hereingekommen waren, mich beobachteten. Als ich zu ihnen sah, grinste eine der beiden und reckte den Daumen in die Höhe. Ein wenig überfordert lächelte ich kurz zurück und wandte den Blick ab.
Ich öffnete meine Tasche, schob meine Bücher, Hefte und einen gefalteten Zettel zur Seite, doch es war weder Wasser, noch Tinte oder sonst etwas zu sehen. Anscheinend meinte es das Leben heute gut mit mir.
Der Unterricht verlief erstaunlich ruhig und so klingelte es nach ein paar Stunden ohne weitere Zwischenfälle zur Mittagspause.
Diesmal nahm ich meine Tasche mit, als ich das Klassenzimmer verließ. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter, ehe ich geradewegs auf meinen Platz hinter den Sporthallen zusteuerte. Ich kletterte auf die Mauer und machte es mir gemütlich, soweit es auf dem kalten Stein eben möglich war. Hoffentlich würde Michael mich auch in dieser Pause in Frieden lassen. Und eine ganze Weile hatte ich wirklich meine Ruhe. Bis ich Schritte hörte. Es war genau wie Freitag; Schritte näherten sich, und ohne ihn zu sehen wusste bereits, wer es war.
Als Michael um die Ecke der Sporthalle kam, senkte ich den Blick, meine Hände krallten sich in die Mauerkante. Ich wollte hier weg.
Michael lief auf mich zu und blieb etwa zwei Meter vor mir stehen, die Hände in den Taschen. Er sah zu mir hoch. Als er sprach, war sein Blick unergründlich.
»Warum hast du das gemacht?«
Verwirrt sah ich zu Michael, der mich mit versteinerter Miene ansah und wappnete mich bereits für eine verbale Attacke von seiner Seite. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen nahm Michael die Hände aus den Taschen und trat einen Schritt auf mich zu.
Das war der Moment, als die Panik in mir hochkochte. Zu nah, schoss es mir durch den Kopf und ich trat reflexartig blindlings mit einem Fuß nach vorne.
Ein Schmerzensschrei. Ein Fluch. Und Michael taumelte zurück, eine Hand an der blutenden Nase.


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Schöne Ferien euch allen (endlich auch für Bayern :D)!

It's never too late - ZomGerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt