02 - Tutti mit Tenor

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Die Tage ziehen vorüber, ohne dass ich noch ein Mal an die Probe denke. Mrs. Blythe ist der Meinung, dass die Solostücke schon gut sitzen, also singen wir in der folgenden Probe nur die Tutti-Stücke. Ich bin ziemlich froh darüber. Mittlerweile liebe ich mein Solo, aber es ist einfach ziemlich stressig, von der ganzen AG angeguckt zu werden und mit der ganzen Aufmerksamkeit umgehen zu müssen. Außerdem laufe ich so nicht in Gefahr, wieder von Captain Hook in den Bann gezogen zu werden. Seinen Namen habe ich immer noch nicht nachgeguckt, ich weiß, dass er auf der Protagonistenliste steht, bisher war ich aber einfach zu faul dazu.

Ich stelle mich zum Tenor, der dieses Jahr ziemlich klein ausfällt. Wir sind gerade mal 8 Tenöre, gegen den Sopran mit 24 Sängerinnen ist das nichts. Ich gehe durch meine Noten, bis Mrs. Blythe vorne in die Hände klatscht. „Meine Lieben, schön, dass ihr da seid. Lasst uns mit dem zweiten Akt beginnen, nach Wendys Solopart." Sie gibt uns die Töne und das Signal zum Singen. Ich finde, dass es sich schon ziemlich gut anhört, jede Stimmgruppe kennt ihre Töne. Die Altistinnen müssen in der vergangenen Woche ihre Stimme gut geübt haben, denn letzte Woche waren sie es, die den gesamten Chor verwirrt haben. Als wir auf der zweiten Seite ankommen, klatscht Mrs. Blythe erneut in die Hände: „Stopp mal, hört mal alle her! Der Tenor ist viel zu leise. Er hat in den letzen fünf Takten auf der ersten Seite die Melodie und hier bei mir kommt davon nichts an. Tenöre – lauter! Sopran, Alt und Bass – leiser! Takt 28 bitte noch ein mal." Ich seufze. Bei dieser Stimmenverteilung ist es ja kein Wunder, dass der Tenor zu leise ist.

Wir singen die Stelle erneut, aber Mrs. Blythe lässt sich nicht zufrieden stellen: „Das passt einfach nicht. Hat nicht jemand von euch eine Lösung parat?" Ich hebe meine Hand. Ich sage zwar sonst nie etwas vor der gesamten Gruppe, aber sonst stehen wir hier noch in einer Woche. „Mitch, ja bitte?" „Wir müssen die Stimmen anders verteilen. Wir sind zu wenige Tenöre. Gegen den Sopran kommen wir niemals an. Gibt es keine hohen Bässe, oder tiefen Alte, die uns unterstützen könnten? Und vielleicht auch über dieses Stück hinaus? Bei den anderen Stücken wird das auch nicht anders aussehen mit der Stimmenverteilung."

„Ja Mitch, eigentlich hast du Recht. Anders können wir das Problem echt nicht lösen. Tom, Ronny, Scott, ihr seid doch Baritone. Könntet ihr nicht auch den Tenor mitsingen?" Drei Schüler nicken. Unter ihnen ist auch Captain Hook. Natürlich war sein Name Scott. Jetzt, als Mrs. Blythe den Namen erwähnt, frage ich mich, wie ich ihn jemals vergessen konnte. Die drei kommen zu uns herüber. Ich nehme am Rande wahr, wie sich auch ein paar Altistinnen zu uns stellen, aber meine Augen liegen auf Scott. Seine Bewegungen sind flüssig und selbst hier, außerhalb der Bühne, strahlt er eine wahnsinnige Präsenz aus. Seine Augen sind wach und schimmern; es sind die Augen eines zufriedenen und lebendigen Menschen, der die Realität nicht aus den Augen verloren hat.

„Hi, ich bin Scott. Du bist Mitch, richtig?", lächelt er mich an und streckt mir die Hand hin. Ich löse mich aus meiner Trance und lächle verlegen zurück. „Richtig. Willkommen im Tenor Scott", antworte ich und schüttele seine Hand. Er hat die Hände eines Künstlers, aber trotzdem einen festen Händedruck.

Mrs. Blythe gibt uns das Zeichen für den Einsatz und ich fange an zu singen. Scott dagegen höre ich nicht. Ich drehe mich zu ihm und merke, wie sein Blick auf mir liegt. Ich lächle ihn an und er lächelt leicht verschämt zurück und guckt dann zu Boden, die Wangen rot. Er hat keine Noten, er muss sie beim Bass liegen lassen haben, aber das ist doch kein Grund, sich so zu schämen. Ich halte ihm meine Noten hin, und berühre ihn an der Schulter, weil er immer noch zu Boden schaut. Er guckt auf meine Hand, dann zu mir, sieht die Noten und lächelt mich dankbar an. Ich zeige ihm, wo wir sind und im nächsten Moment setzt er ein, seine Stimme leicht und trotzdem kraftvoll; er könnte glatt als Tenor durchgehen. Aus der Nähe hat seine Stimme einen unfassbar ergreifenden Klang; sie schickt mir einen Schauer über den Rücken und zaubert mir eine Gänsehaut auf die Arme. Ich schließe die Augen und höre, wie wunderbar wir zusammen klingen. Unsere Stimmen verschmelzen und obwohl sie ziemlich gegensätzlich sind, bilden sie zusammen einen wunderschönen Klang, der mir einen weiteren Schauer über den Rücken jagt. Gerade, als ich zu hoffen wage, dass der unser privates Duett niemals endet, hört Scott auf zu singen. Panisch schlage ich die Augen auf und höre auch auf zu singen. Habe ich etwa nicht mitbekommen, dass Mrs. Blythe abgewunken hat?

Aber als ich mich umschaue, sehe ich, dass alle anderen noch singen. Ich schaue zu Scott, der mir zurück in die Augen schaut. Er lächelt und scheint gerade erst zu realisieren, dass ich ihn wieder dabei erwischt habe, wie er mich anguckt. Als Mrs. Blythe das Lied abwinkt, höre ich ihn sagen: „Wunderschön." Ich antworte: „ Was ist wunderschön Scott?" Er scheint es nicht erwartet zu haben, dass ich das hören würde und so antwortet er: „Nichts, Mitch. Nicht so wichtig."

Unbefriedigt mit seiner Antwort setze ich an, um weiter nachzuhaken, aber Mrs. Blythe zeigt uns an, dass wir weiter machen. Der Rest der Probe ist ein voller Erfolg. Als wir fertig sind, packe ich langsam meine Sachen ein. Scott geht zum Bass und holt seine Noten. Ich verstaue meine Noten und meine Wasserflasche in meiner Tasche und lasse mir besonders viel Zeit, sie so zu arrangieren, dass sicher nichts verknickt und ziehe danach den Reißverschluss zu. Als ich mich wieder aufrichte, steht Scott vor mir. Ich muss unwillkürlich lächeln. Er sagt: „Das war eine tolle Probe, Mitch. Deine Stimme ist echt schön." Ich laufe rot an und antworte leise: „Danke. Ich freue mich auch auf die weiteren Proben." „Wer hat denn gesagt, dass ich mich auf die weiteren Proben freue?", fragt Scott. Ich schlucke und gucke zu Boden. Aber als Scott meine Unsicherheit bemerkt, lenkt er sofort ein: „Hey, Mitch, das war ein Scherz. Mit dir, cutie, werden die Proben ein Spaß!" Er zieht seine Augenbraue nach oben und grinst mich verschmitzt an. Wenn er denkt, das kann nur er, hat er sich gewaltig geschnitten. Ich setze meinen verführerischsten Blick auf und antworte: „Ja, daddy, das denke ich auch." Ich klimpere dramatisch mit meinen Wimpern und ziehe meine Unterlippe zwischen meine Zähne.

Die Aktion sitzt. Scott guckt mich überrascht und leicht erschrocken an, bis er sich von seinem Schock erholt und einlenkt: „Nein, Mitch. Also.. ich meine das.. wirklich. Ich ... freu mich auf die Proben." Jetzt lächelt er mich unsicher an. Ich bestätige seine ehrliche Äußerung mit einem großen Lächeln, das er mir mit dieser Aussage auf die Lippen zaubert: „Ich auch Scott."

Ein Abschlussjahr ≠ 08/15 - Sup3rfruit FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt