05 - Wahrheit

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Als ich zu Hause ankomme, bin ich klitschnass. Meine Klamotten kleben an meinem Körper und der Regen vermischt sich mit meinen Tränen. Meine Hände zittern, als ich meinen Schlüssel hervorhole und die Haustür aufschließe. Im Treppenhaus angekommen, dringt ein Lachen aus dem Wohnzimmer zu mir. Ich gehe leise die Treppe zu meinem Zimmer hoch und suche mir neue Klamotten heraus. Dann gehe ich ins Badezimmer und nehme eine lange Dusche.

Während das Wasser auf meinen kalten Körper prasselt, merke ich, wie meine Verspannungen sich merklich aus meinen Schultern lösen und wie ich langsam wieder warm werde. Währenddessen kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, was sich eben abgespielt hat. Hat Scott wirklich ein Kind? Ich meine, ja, das hat er, das habe ich ja gesehen. Und das heißt, dass er mit einem Mädchen zusammen ist, was wiederum bedeutet, dass er hetero ist. Seufzend nehme ich mir mein Shampoo und massiere es in meine Haare ein. Das Gefühl meiner Finger auf meiner Kopfhaut ist angenehm, ich liebe Massagen, insbesondere Kopfmassagen, nun mal. Einen Moment war ich total frei, aber nun kehren die Gedanken an Scott wieder. Wenn er hetero ist, habe ich mir dann die Spannung zwischen uns nur eingebildet? Findet er mich überhaupt nicht interessant? Hat er nur aus Spaß mit mir geflirtet? Oh man, ist das peinlich. Er hat das überhaupt nicht ernst gemeint und ich hab total darauf reagiert. Was muss er jetzt von mir denken? Ich spüle das Shampoo aus meinen Haaren. Ich kann ihm doch nie wieder in die Augen blicken. Aber auch wenn das insgesamt ziemlich peinlich ist, tut es doch auch einfach nur ziemlich weh. Ich fühle mich total gedemütigt. Und einfach nur verletzt. Mir kommen die Tränen wieder hoch, die ich in den letzten Minuten erfolgreich unterdrückt hatte. Er war so mysteriös, und dann super nett. Er hat diese Ausstrahlung. Und er hat nur mit mir gespielt.

Seufzend stelle ich das Wasser ab und steige aus der Dusche. Von dem Wasserdampf ist der Spiegel total beschlagen. Ich wickel mich in mein Handtuch ein und stelle dann das Fenster auf Kipp. Ich trockne mich ab und föhne mir dann meine Haare. Ich schlüpfe in meine trockenen Klamotten und hänge die nassen auf die Heizung. Als ich in mein Zimmer zurückkehre, sitzt meine Schwester auf meinem Bett. „Hey Queen, ich wollte nur gerade sagen, dass Jared und ich jetzt bei dem Konzert sind, von dem ich dir erzählt habe. Wir sehen uns dann morgen!" Ich gehe zu ihr hin und schließe sie in die Arme. „Und immer schön verhüten, Schwesterchen. Wenn ihr nicht schon heute Nachmittag das Konzept versaut habt." Jessa boxt leicht gegen meinen Arm. „Mitch!" Ich umarme sie und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. „Los, hau schon ab. Hab einen schönen Abend. Ich komme noch mit runter."

Als wir unten im Treppenhaus ankommen, steht dort Jared und hält Jenna die Jacke passend zum Anziehen hin. Sie schlüpft in sie und kommt zu mir. „Ist bei dir alles in Ordnung, Mitch? Können wir wirklich fahren?" Ich seufze. „Es ist nicht alles in Ordnung, aber ich gehe gleich zu Mary rüber und es bringt nichts, wenn ich dir den Abend versaue. Hab viel Spaß." Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und drehe mich dann zu Jared: „Tschüss Jared. Viel Spaß. Pass auf Jenna auf." Jared lächelt mich an: „Aye aye Käpten. Hab auch einen schönen Abend Mitch!"

Die beiden treten aus der Haustür und ich nehme mir meine Jacke. Auch wenn der Weg zu Mary nur kurz ist, habe ich keine besondere Lust, noch einmal nass zu werden heute. Ich schließe die Tür hinter mir. Meinen Schlüssel nehme ich nicht mit. Wenn ich zurückkomme, werden meine Eltern wieder da sein. Ich lege den kurzen Weg zu Mary zurück und klingel dann an der riesigen Haustür. Als ich auf sie warte, kommen die Gedanken an Scott wieder, was vielleicht gar nicht so schlecht ist, weil ich mit Mary über die Situation sprechen möchte. Als Mary mir überschwänglich die Tür öffnet, habe ich schon wieder Tränen in den Augen. „Hey Mitch! Bin ich froh, dass du da bist. Ich hab mich den ganzen Nachmittag gelangweilt, weil meine Elt.. Hey, ist alles okay bei dir? Komm rein." Sie unterbricht ihren Redeschwall und zieht mich in die Villa. Wir gehen in ihr Schlafzimmer und die ganze Zeit spüre ich ihren besorgten Blick auf mir ruhen.

Als wir uns auf ihr Bett fallen lassen, fragt sie mich was los sei. „Mitch, ich kann doch sehen, dass etwas nicht stimmt. Rede mit mir." Ich schnappe mir eins von ihren weißen Plüschkissen und platziere es auf meinem Schoß. Als ich anfange zu reden, zittert meine Stimme. „Ich hab dir doch von Scott erzählt. Der fantastische Sänger, der die Rolle von Captain Hook spielt im Musical. Er singt jetzt im Tenor mit und.. wir haben heute ziemlich geflirtet. Und als wir uns verabschiedet haben, kam Kirstie zu mir..." Ich erzähle ihr die ganze Geschichte von seiner unglaublichen Ausstrahlung beim Singen über die Situation bei Kirstie bis hin zum Wiedertreffen mit Scott am See. „Also um es zusammenzufassen, Mitch, du stehst auf einen Jungen, der neu in unsere Nachbarschaft gezogen ist und den du auch im Musical total oft sehen wirst; du konntest einfach keinen Sex mit Kirstie haben und derselbe Junge von eben scheint hetero zu sein und ein Kind zu haben? Oh man, oh man. Das ist ein Brocken Mitch." „Ich weiß", antworte ich. „Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich bin schwul. Aber ich versteh das nicht, weil..", fange ich an zu schluchzen. „Weil ich liebe Kirstie ja auch." Mary nimmt mich in den Arm. „Aber war das mit Kirstie in letzter Zeit nicht eine Beziehung, wie du sie mit mir hattest? Und Mitch, ob du schwul, bi, pan, hetero, a, oder sonst was bist. Das ist doch egal. Liebe ist Liebe. Aber zurück zu Scott. Bist du dir sicher, dass das sein Sohn war?" Ich gucke sie an: „Ja, ganz sicher. Er hat ihn sogar ‚mein Prinz' genannt. Und ich dachte, dass da etwas ist zwischen Scott und mir. Vielleicht habe ich mich ja total vertan." Ich kann die folgenden Schluchzer nicht unterdrücken und so liegen wir Arm in Arm im Bett, während Mary mir beruhigend über den Rücken streichelt. „Psssscht, ganz ruhig Mitch. Beruhig dich!" Als meine Schluchzer verebben fragt Mary mich, was mit Kirstie sei. „Ich weiß es nicht, Mary, ich weiß es nicht. Ich kann nicht mit ihr schlafen. Und in letzter Zeit war es auch komisch sie zu küssen. Aber ich liebe sie doch. Weißt du, das zerreißt mich von innen. Ich liebe sie, aber ich kann ihr nicht das bieten, was sie verdient. Ich bin schwul." Ich spreche die Worte aus und realisiere, wie sehr diese Worte mich berühren. Sie machen mir Angst. Ich kann einfach nicht schwul sein. Ich muss doch Kirstie alles geben, was ich habe. Ich liebe sie. Sehr. Aber andererseits hören sie sich so richtig an. Schwul. Homosexuell. Das passt. Das ist das fehlende Puzzleteil.

Jetzt, wo ich das einmal realisiert habe, komme ich da nicht mehr raus. Ich kann mir noch so oft sagen, dass ich nicht schwul bin; jetzt, wo ich die Wahrheit erkannt habe, habe ich keine Chance mehr, mich selbst zu belügen. Und das macht mir unglaublich Angst. Wie soll ich Kirstie weiter lieben mit dieser Wahrheit? Und ich liebe sie doch so sehr. Ich möchte nicht, dass diese Liebe endet. Ich möchte nicht, dass dieser Lebensabschnitt endet. Ich breche erneut in Tränen aus. Mary streicht mir weiterhin beruhigend über den Rücken. „Hey, es wird alles gut. Es ist okay, dass du schwul bist. Du wirst die richtige Entscheidung treffen. Und ganz ehrlich Mitch. Wenn du dich zwischen Scott und Kirstie entscheidest, ist doch eine Sache sicher: Liebe. Bei Scott hast du dich sicher nicht geirrt, dazu hast du eine zu gute Menschenkenntnis. Und Kirstie liebt dich sowieso." Ich gucke sie an und fange an zu weinen. „Mary, das ist genau das Problem. Ich muss mich zwischen zwei Personen entscheiden, die ich beide liebe. Das tut unglaublich weh. Denn sterben möchte keine der beiden Lieben. So funktioniert Liebe nicht. Sie existiert trotzdem weiter. Auch wenn ich mich für einen der beiden entscheide. Es wird trotzdem weh tun, eine Liebe sterben zu sehen. Und noch schlimmer wird es sein, einen der beiden leiden zu sehen. Ich möchte niemandem weh tun, den ich liebe." Ich fange an, unkontrollierbar zu schluchzen, weil ich realisiere, dass ich die ganze Zeit Kirstie als die leidende Person und Scott als die weiterexestierende Liebe im Kopf habe.

Ich flüstere: „Ich möchte Kirstie nicht weh tun." Und damit ist die Entscheidung getroffen.

Ein Abschlussjahr ≠ 08/15 - Sup3rfruit FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt