Irgendwann muss ich dann doch eingeschlafen sein, denn als ich aufwache ist es wieder hell draußen. Nach einem Blick auf die Uhr an der Wand, springe ich auf und ziehe mich schnell an. Es ist leider schon ziemlich spät und ich habe heute noch viel vor.
"Lina?" rufe ich ins Bad hinein. Keine Antwort. Also ist sie schon weg. Seit dem Vorfall habe ich sie nicht mehr gesehen. Warscheinlich ist sie unten im Stall, wo ich auch gleich hingehen werde.Ich schnappe mir noch schnell einen Apfel, aus dem Obstkorb am Tisch und laufe hinunter in den Stall. Zuerst schaue ich zu Tracy, Gini und Sundancer, bevor ich vor "Black Champions" Box stehen bleibe. Er steht mit angelegten Ohren im hintersten Winkel der Box und schnaubt unruhig. Ich öffne leise die Boxentür und schließe sie hinter mir wieder. So ruhig wie möglich gehe ich auf den Wallach zu und versuche ihn zu beruhigen. Langsam strecke ich die Hand aus und lege sie auf seine Nüstern. Er reißt die Augen wieder auf, bewegt sich aber nicht. Nach einer Zeit hat er sich dann auch wieder beruhigt und ich kann meine Hand in sanften Linien über sein Gesicht bishin zu seiner Flanke ziehen. Er bleibt die ganze Zeit still stehen.
"Sich anfassen zu lassen ist kein Erfolg, glaub mir Emma. In drei Wochen ist das Turnier, an dem du mit einem spitzenklasse Spring-und Dressurpferd erwartet wirst. Es ist eine Ehre, aber mit dem Pferd, was du jetzt vor dir siehst, wirst du nichts erreichen. Das ist nicht Black Champion. Black Champion ist tod." Ich hätte nie erwartet, derart harte Worte aus dem Mund meiner besten Freundin zu hören. Dennoch steht sie jetzt hinter mir und ich kann mir ihren verachtenden Blick nur zu gut vorstellen.
"Warum sagst du so etwas, Lina? Was ist passiert, dass du so denkst?"
"Ich bin es leid immer die zweite Geige zu spielen. Immer heißt es: "Emma hat das hingekriegt.","Emma gewinnt das Herbstturnier.","Emma bekommt alles in den Arsch geschoben."" Den letzten Satz sagt sie mit so viel Hass und Verachtung in der Stimme, dass es mir das Herz zerreißt und ich vor Schmerz zusaamenzucke. Der schwarze Wallach legt seinen Kopf auf meinen und bläst mir in die Haare. Ein weiterer Beweis, dass es sich um Black Champion handelt.
"Das heißt, du hast mir all die Jahre Freundschaft vorgespielt? Alles was wir zusammen erlebt haben und durchgemacht haben, war komplett gelogen? Wer bist du und warum hast du mir das angetan?" Am Ende des Satzes schreie ich schon fast und drehe mich mit Schwung um, um in ihr gehässig schauendes Gesicht zu sehen. Das Gesicht meiner "besten Freundin".
Sie lacht nur hasserfüllt und geht dann davon. Ohne auch nur einmal zurückzublicken. Meine beste Freundin.
In dem Moment spüre ich solch einen Schmerz und eine unbändige Wut, dass ich ohne zu überlegen, die Boxentür aufstoße, mich auf den Rücken des Rappen schwinge und auf ihm hinausgaloppiere. Egal wohin, nur so weit weg wie auch nur möglich von dem Schmerz, den sie mit ihren Worten zurückgelassen hat. Dabei vergesse ich sogar, dass ich auf dem blanken Rücken eines Pferdes sitze, das alle aufgegeben haben. Alle außer ich.
Alles was zählt ist, zu fliehen. Weg von der Welt, die ich einst für meine hielt. Weg von allen Leuten, die in meinem Leben standen. Weg von der gewohnten Umgebung und den damit verbundenen Erinnerungen. Weg von allem. Einfach weg.
Das Pferd unter mir scheint zu wissen, wo wir hinmüssen und rast zielstrebig in eine Richtung, während ich nur schlapp auf seinem Rücken hänge und meine Arme um seinen Hals klammere. Das ich nicht hinunterfalle ist ein Wunder, doch Black Champion hat mich noch nie fallen lassen. Und das wird er auch jetzt nicht. Er rennt einfach los und versucht mich an einen Ort zu bringen, an dem ich keinen Schmerz empfinde. Ich meine nicht den Himmel. Ich meine unser eigenes, kleines Paradies, das wir schon lange haben, aber noch nie betreten hatten. Und warum? Weil wir Angst hatten. Angst vor der Veränderung. Angst vor etwas neuem. Aber jetzt haben wir keine Angst mehr. Wir trauen uns, es wenigstens zu versuchen.
Ich weiß nicht wie lange wir schon unterwegs sind, aber es sind sicher schon einige Stunden vergangen, denn die Sonne geht langsam unter. Mein Kopf ist an seine Flanke gedrückt, während ich mich immer noch krampfhaft festhalte. Ich weiß nicht, wie ich loslassen soll. Und damit meine ich nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Aber das ist nicht schlimm, denn dem Wallach kann ich blind vertrauen. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlage, werde ich von grellem Licht geblendet.
Vorsichtig richte ich mich auf und bemerke, dass ich immer noch auf Black Champion sitze. Wir sind mittlerweile irgendwo am Strand, aber mehr als das unendliche Meer und den Sand unter uns kann ich nicht erkennen. Wir müssen irgendwo an der Adria sein. Das ist die nächstgelegenste Stelle vom Internat.
Da ich mein Pferd nicht noch länger belasten will, pariere ich ihn vom Trab durch und steige ab. Da ich nicht darauf vorbereitet war, dreht sich alles und ich sinke in den weichen Sand. Meine Augen schließen sich und das letzte was ich höre, ist das leise Schnauben meines geliebten Tieres.
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Reitinternat Sunshine 2-Pferde fliegen ohne Flügel
Teen FictionDie Geschichte von Emma, Lina, Black Champion und den Anderen geht weiter. Zwei Jahre später. Der Hof von Emmas Eltern steht kurz vor dem Aus. Zu viele Schulden und zu wenig Ferienkinder und Reitschüler. Emma und ihre Freunde müssen sich etwas überl...