Als ich meine Vergangenheit hinter mir ließ

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Hier stand ich nun: Auf einem Balkon mitten in Berlin in der Silvesternacht. Es war kurz vor dem Neujahresbeginn. Eine leichte Strickjacke zierte meine Schultern, mein gleichmäßiger Atem formte Wolken in der eisigen Luft.

Es war schwer gewesen, hierher zu gelangen. So viel war passiert. Alles hatte vor dreißig Tagen angefangen, am ersten Dezember. Meine Schwester hatte uns verlassen und war mit dem an der Universität Theologie unterrichtenden Professor durchgebrannt. Einzig und allein einen Brief voller nichtssagender Worte hatte sie zurückgelassen. Diesen Brief trug ich bei mir.

Ihr Verschwinden hatte einen Streit ausgelöst, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Die Frage der Schuld, des Versagens stand im Raum und wurde jedem einzelnen Familienmitglied vorgeworfen, unterstellt und angeheftet. Jeder schien in den Augen der anderen dafür verantwortlich zu sein, dass die Worte Familie und Ehre von meiner Schwester so achtlos weggeworfen worden waren. Dieser Streit ließ die Familie zerbrechen.

Deshalb feierten wir Weihnachten zum ersten Mal seit ich denken konnte alleine. Es war trostlos gewesen. Diesmal gab es keine Besuche bei Verwandten, keinen gemeinsamen Gottesdienstbesuch, nur Funkstille. Aus diesem Grund erfuhren wir erst am Tag der Beerdigung, dass meine Großmutter gestorben war. Herzversagen. Das war der Tag, an dem ich meine Sachen packte und ging.

Nicht wie meine Schwester. Ich tat es offensichtlich und machte kein Geheimnis daraus. Ich versprach zu schreiben. Mit meinem Koffer machte ich mich auf den Weg zu meinem Verlobten Max. Mit ihm wegfahren war das, was ich jetzt wollte. Wie konnte ich wissen, dass er gerade Besuch von meiner besten Freundin Fiona hatte? Sie bemerkten mich zu spät, ich hatte es schon gesehen.

Wortlos hatte ich sein Haus verlassen. Hatte ich ihn verlassen. Nicht einmal mehr weinen konnte ich. Am Bahnhof war ich in den nächstbesten Zug gestiegen und mit jeder Meile, die ich mich von meiner Heimatstadt entfernte, begann ich zu vergessen. Ich vergaß die hässlichen Worte, die die Münder meiner Verwandten verlassen hatten, vergaß den Professor, der mir meine Schwester gestohlen hatte, den Tod, der meine Großmutter mitfort gerissen hatte, und Max, der mir seine nichts bedeutende Treue unter Beweis gestellt hatte.

Als ich in Berlin ausstieg, wusste ich schon gar nicht mehr den Namen meines Verlobten. Das Hotelzimmer in der Stadtmitte betrat ich mit dem Gefühl, erst seit heute zu leben und keine Vergangenheit zu haben.

Und nun, nun stand ich auf dem Balkon des kleinen Hotels in der Silvesternacht und starrte in den Himmel. Ich hatte es geschafft. Ich war nicht zerbrochen, nein, ich war am Leben. Die eisige Luft fuhr mir über den Körper und ließ mich frösteln. Langsam entfaltete ich den Abschiedsbrief meiner Schwester. Hoffentlich würde sie glücklich werden. Mit diesem Gedanken riss ich das Blatt in kleine Fetzen und sah zu, wie der Wind sie davonwehte und somit die letzte Erinnerung an mein altes Leben verlosch.

Ich war frei. Ich hatte es geschafft. In diesem Augenblick schlug eine Turmuhr für Mitternacht und ein Meer aus bunten Farben explodierte am Himmel. Mein neues Leben begann.

Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr. Kommt heil dort an und hoffen wir mal, dass es etwas Besseres im Petto hat als 2016😉. Happy New Year!✨

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