Trust me

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*Trust me*

"Vertrau mir", hatte sie gesagt.

Sie hatte es gesagt, seine Hand genommen und etwas Spitzes hineingelegt.

Vertrau mir...

Er hatte ihr vertraut, war ihr gefolgt. Hatte keine Fragen über ihr Aussehen gestellt, oder, was sie um diese Uhrzeit noch draußen wollte. Er hatte seine Verwunderung unterdrückt, sein Gewissen, und war ihr gefolgt. Schließlich konnte er ihr schon immer vertrauen.

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"Sie hat mich ausgeliefert!", fluchte er leise. Seine Faust krachte gegen die Wand, ein dumpfer Schlag ertönte. Wut kochte in ihm hoch. Die Schmerzen in seiner Hand, dieser Raum, diese Situation, das war alles ihre Schuld!

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Sein Kopf lag in seinen Händen. Langsam wog er sich hin und her. Warum hat sie das getan? Müdigkeit überkam ihn. Diese Frage hatte er sich schon so oft gestellt. Hatte sie das von Anfang an geplant? Seine Schläfe fing an zu pochen. Mit zwei Fingern begann er sie sich vorsichtig zu massieren. Diese Frage hatte er sich eindeutig schon viel zu oft gestellt. Erschöpft schloss er die Augen und begann von Neuem seinen Oberkörper beruhigend vor und zurück zu bewegen. Erst ein dröhnendes Krachen ließ ihn inne halten und aufschauen. Die schwere Metalltür zu seiner Linken öffnete sich, ein Teller wurde auf den Boden gestellt und von außen rief jemand "Essen." Schon fiel die Tür wieder zu.

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Was hatte sie nur getan? Er verstand es nicht. Sie war seine Schwester! Seine Familie! Sie hatten immer zusammengehalten, waren unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich gegenseitig den Helden gespielt, hatten den anderen immer wieder gerettet, sie war immer für ihn da gewesen, wie ein Engel, wenn er alles beenden wollte. Sie hatte ihm aufgeholfen, hatte ihm gezeigt, dass sie bei ihm war, dass sie es mit ihm durchstehen würde und er ihr vertrauen konnte. Schon so oft war er ihr gefolgt, hatte alles stehen gelassen für sie, hatte all seine Hoffnung in sie gesetzt und jedes Mal hatte sie Recht behalten. Warum also hatte sie das hier zugelassen? Hatte nur zugesehen, als sie ihn festgenommen hatten. Als er abgeführt wurde. Sie war dagestanden, hatte ihn angesehen und ihn freigegeben. Ohne zu kämpfen. Ohne ein Widerwort. Doch warum? Warum ließ sie ihn einfach so im Stich? Er verstand es nicht.

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Verflucht! Er hielt es nicht mehr aus. Er wollte hier raus, wollte wieder etwas anderes als die grauen Wände sehen. Etwas anderes, als dieses Bett, als den Riss oben in der Ecke, als die Gitter vor dem kleinen Fenster. Er wollte diese Kälte nicht länger spüren. Er wollte eine andere Stimme als die schneidende des Wärters hören. Er wollte raus aus dieser Tristesse. Raus aus diesem Raum. Raus aus diesem Leben! Er presste seine Hände vors Gesicht, wollte verhindern, dass es sich vor Schmerz und Verzweiflung verzerrte, wollte den unnatürlichen Schrei unterdrücken, der seine Lippen verließ. Er kämpfte mit sich selbst und verlor. Er verlor die mühevoll aufrecht erhaltene Fassung und sprang auf. Seine Augen glühten wie schon lange nicht mehr, der Zorn, der Wahnsinn spiegelte sich in ihnen wider, während er vor Wut am ganzen körper zitterte, die Fäuste ballte und blindlings auf die Wand eindonnern ließ. Es war ihm egal, dass sie bei jedem Schlag erzitterte, der Riss oben in der Ecke sich wie ein Spinnennetz ein Stück weiter spannte oder der Wärter vor der Zelle ihn für verrückt erklärte. Ihm war alles egal. Das einzige, was zählte, war seine Schwester. Die Frau, die ihn verraten und ausgeliefert hatte. Die an seiner Situation Schuld war. Nur sie.

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Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Er wusste nicht, wie lange er nun schon hier war, aber es kam ihm verdammt lange vor. Seine Erinnerungen schwanden langsam. Jeden Tag musste er feststellen, dass er sich an ein Detail weniger erinnern konnte. Nur die Nacht, in der er festgenommen wurde, spielte sich immer wieder klar und deutlich in seinem Kopf ab. Der Blick seiner Schwester, ohne Reue, ohne Scham ließ sie ihn gehen. Doch dann tauchte etwas anderes auf und verdrängte jene Nacht. Eine Erinnerung an früher. Als er noch kleiner gewesen war, als sie ihn beschützt hatte, weil er von Kindern aus der Nachbarschaft beschimpft, bespuckt und bedrängt worden war. Sie war aufgetaucht wie eine Heldin, hatte sich schützend vor ihn gestellt und ihn gerettet. Das war das erste Mal gewesen. Er erinnerte sich an eine andere Situation. Immer mehr Momente kamen in ihm hoch. Eine Erinnerung jagte die nächste, sie pulsierten durch seinen Kopf. Er sah sich selbst auf der Brücke sitzen, die Beine über dem Abgrund, bereit zum Sprung. Dann tauchte seine Schwester auf, mit Tränen in den Augen zerrte sie ihn vom Rand weg und schlang ihre Arme um ihn. Sie hielt ihn, flüsterte ihm Worte ins Ohr, die nur für ihn bestimmt waren und die er bis zu seinem Tod nicht vergessen würde. Er schien ihre schlanke Hand an seiner Wange zu spüren und in ihre Augen voller verzweifelter, purer, lebendiger Liebe zu blicken. Ein Schauer strich über seinen Körper und er realisierte, dass er weinte. Immer mehr Tränen flossen über sein Gesicht, er schmeckte ihr Salz auf seinen Lippen und eine unergründliche Sehnsucht packte ihn. Er vermisste diese Frau, auf die er eigentlich so wütend war. Er vermisste den Klang ihrer Stimme, ihre Nähe, ihre unverkennbare Liebe zu ihm. Sie war seine Familie, alles, was er noch hatte und er hielt es nicht mehr aus, von ihr getrennt zu sein.

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Seit Wochen lebte er in einem Wechselbad der Gefühle. Seine Hoffnungen verfielen, sein Lebensmut sank. Der Gedanke, dass er seine Schwester nie wieder sehen würde, manifestierte sich in seinem Geist und ließ ihn nicht mehr los. Nachts schreckte er aus dem Schlaf hoch und die Panik, sie hatte ihn vergessen, schnürte ihm die Kehle zu. Tagsüber zerbrach er sich den Kopf über sie, wie schon die ganze Zeit, in der er hier war. Er tigerte durch den Raum, legte Kilometer zurück, rupfte sich Haare aus, zerkratzte sich das Gesicht, verlor immer öfter die Fassung, verletzte sich selbst, wenn er auf die Wand einschlug, schlief auf dem Boden und rührte sein Essen nicht mehr an. Man konnte mitansehen, wie sein Gesicht einfiel, seine Kraft schwand und er nur noch ein Schatten seiner selbst wurde. Bald passten ihm seine Klamotten nicht mehr, sie schlotterten um seinen abgemagerten Körper wie ein Bettlaken und der Wahnsinn zog in seinem Kopf ein. Er lief immer weniger, kauerte Tag für Tag in der Ecke mit dem Riss, den Kopf auf seinen Knien und starrte auf den Boden. Der Wärter vor seiner Tür sah immer öfter, wie Tränen über seine eingefallenen Wangen perlten und sein Blick immer stumpfer und lebloser wurde.

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Irgendwann war es soweit, er gab sich auf. Es mussten mittlerweile Monate verstrichen sein, ohne ein Lebenszeichen von außen, von ihr. Es war, als gäbe es sie gar nicht mehr, als wäre sie nie da gewesen. Nicht einmal mehr die Bilder in seinem Kopf schenkten ihm noch etwas. Nicht Hoffnung, nicht Liebe und erst recht nicht Glaube. Er hatte den Glauben in seine Familie verloren, die einzige Frau, die er je liebte. Nur die Wut war ihm geblieben und lenkte seine gänzlichen Gedanken. Sie quälte ihn mit den Erinnerungen an jene Nacht, die mittlerweile so lange zurück lang und doch so präsent war, als wäre es gestern passiert. Dieser Blick, der kalte berechnende Ausdruck ohne schwesterliche Liebe oder Reue jagte ihn durch seine Nächte und folterte ihn am Tage. Da gab es nichts Anderes mehr. Seine Augen waren ermattet, sein Körper müde, sein Herz schier tot, nur von Wahnsinn und Wut getrieben. Die Kraft, seinem Inneren Ausdruck zu verleihen, war geschwunden und nun kontrollierte die Verzweiflung seinen Körper, ließ ihn zittern, ließ ihn schwanken, doch nicht gehen. Er war ein Wrack, fokussiert auf dieses Gesicht in seinem Kopf, das er einst geliebt hatte, dem er einst bedingungslos vertraute, und für das nur noch Hass übrig war. Die Wut pochte durch seinen Körper jede Sekunde seines Daseins, ließ ihn nicht mehr los, bohrte ihm Messer in das Herz, die es ausbluteten, um es danach wieder anzufüllen. Ein weniger Kreislauf des Wahnsinns.

Und dann, nach Wochen, Monaten der Verzweiflung, da öffnete sich die Tür seiner Zelle und plötzlich stand sie vor ihm. Sie, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war, die ihm das hier angetan hatte. Doch all das war nicht mehr da, als er ihr Gesicht sah, die Liebe, die aus ihren Augen sprach - nur für ihn. Dieser Blick radierte alles aus seinem Leben, den Schmerz, den Wahnsinn, die Wut und ließ seine Hoffnung zurück kehren, seine Kraft, den Glauben. Der Anblick heilte seine Wunden innerhalb von Millisekunden, es war, als sei er neu geboren. Sie trat auf ihn zu, lächelnd, voller Wärme, berührte seine geschundenen, vernarbten Hände, strich ihm über das von Kratzern gezeichnete Gesicht und sprach die Worte aus, die tief in ihm unter Bergen, ja Welten von Schutt, Asche, Glut und Feuer vergraben waren. Die Worte, auf die er immer gewartet hatte.

"Vertrau mir."

Und er nahm ihre Hand, ohne Reue, ohne Zweifel, lächelnd, glücklich und folgte der einzigen Frau, der er je bedingungslos vertraut hatte, ins Ungewisse.













Diese Geschichte ist jetzt fast zwei Jahre alt (ich habe am 29. Oktober 2015 angefangen, sie hier aufzuschreiben) und endlich bin ich in der Lage, sie zu teilen. Ich hoffe, euch gefällt und ihr versteht, was ihr lest.

Oben das Video verkörpert all die Stücke von Ludovico Einaudi, die mich während des Schreibprozesses begleitet haben.

-Lisa

Die Gedanken sind freiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt