Mädchen im Mondschein

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Die Farben verschwimmen. Nur ganz leicht, aber doch erkennbar strecken sie sich über ihre Form hinaus, tasten sich zum Bildrand. Ganz langsam sickern die Farben aus dem Bild. Jetzt blinzelt sie. Die Luft ist rein, niemand ist da. Ihre großen, kugelrunden Augen leuchten in den Tönen des Himmels und lassen sie klein und kindlich wirken. Vielleicht ist sie das ja auch. Mit gebotener Vorsicht löst sie ihre Starre. Augenblicklich fallen die pechschwarzen, vom Wind verwehten Haare glatt auf ihre Schultern zurück. So zerbrechlich und zart scheint sie zu sein, in dem kristallblauen Kleidchen, das ihren Körper bedeckt. Und diese blasse Haut... Als ob sie noch nie die Sonne gesehen hätte. Ihr Blick schweift nach oben, bleibt am leuchtenden Vollmond ihres dunklen Nachthimmels hängen. Sie hat noch nie die Sonne gesehen. Langsam und unglaublich sanft streckt sie die Beine aus, als ob sie nicht genau wüsste, ob sie sie tragen können. Im Grunde weiß sie es ganz genau. Diese dürren, bleichen Beinchen wurden nicht dazu geschaffen, einen Körper zu tragen. Nicht einmal ihren. Trotzdem hat sie jeden Abend diesen Funken Hoffnung, der in ihr lodert und sie glauben lässt, dass vielleicht morgen, morgen, wenn sie sich regt, aufstehen kann, gehen, springen, was immer ihr Herz begehrt und dann einfach nur von hier verschwinden. Doch, was immer auch geschieht, wie oft sie auch aufwacht, starr vor Angst und trotzdem mit diesem kleine leuchtenden Funken in ihrer Brust, wird sie jedes Mal mit der Realität konfrontiert, mit der traurigen Wahrheit, dass ihre Beine zu schwach sind, zu zerbrechlich. Sie wird nie gehen können, nie springen und erst recht nicht hier raus kommen. Sie wird es nie schaffen, ihr Gemälde zu verlassen. Denn sie ist nur das Mädchen im Mondschein

18-01-2017

Die Gedanken sind freiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt