| Kapitel 28

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   | Die Bauern sind die Seele des Schachspiels

|Orion
Sie war tatsächlich da, sie war wieder da. Erleichterung durchströmte jede Faser meines Körpers und ich hätte sowohl den Himmel als auch die Erde zu meinen Füßen küssen können. Die Angst, dass sie nie wieder auftauchen könnte, hatte unmessbare Ausmaße angenommen. Sie hatte, wie ein Fels auf meiner Brust gelegen und mich in den Nächten wach gehalten.

Auch Linus, der links neben mir stand, atmete erleichtert aus. Ich konnte förmlich spüren wie die Anspannung von seinem Körper abfiel. Er machte Anstalten auf Larissa zu zustürmen, hielt jedoch in der Bewegung inne. Verwirrung stand dem Blondschopf im Gesicht geschrieben.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Woher wusste Linus, wo Lissa stand, obwohl er sie nicht sehen konnte, wie ich es tat? „Was um alles in der Welt...?", hauchte Linus und trat nun doch auf seine Schwester zu, wenn auch langsamer als er es zu Anfang beabsichtigt hatte. Tränen schwammen in Larissas Augen, als ihr Bruder ihr in die Augen sah – sie wirklich wahrnahm.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich das Bild vor mir sah. „Irgendwie sieht das ja schon seltsam aus", unterbrach Anna meinen Frohsinn. „Ich meine, wie er da so vor dem Grab steht und mit der Luft liebäugelt. Echt strange". Breit grinste ich und griff nach ihrer Hand. Wohl wahr, auf Nicht-Sehende hatte dieses Bild garantiert eine merkwürdige Wirkung.

„Ich wünschte, ich könnte auch Geister sehen", seufzte meine Freundin traurig. „Also nicht, dass ich in naher Zukunft eine Nahtoterfahrung machen möchte...". Beschwichtigend hob Anna die Hände und grinste mich unschuldig an. „...aber tote Menschen sehen muss echt abgefahren sein!". Sprachlos sah ich sie von der Seite an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Im Grunde bin ich froh ihr von meinen ‚Fähigkeiten' erzählt zu haben, immerhin stand jetzt kein Geheimnis mehr zwischen uns. Allerdings bereute ich es aufgrund ihres derzeitigen Verhaltens. Da taten sich ganz neue Abgründe auf.

Amüsiert kicherte meine wundervolle Freundin und tupfte mir einen Kuss auf die Wange. Sachte zog ich sie an der Hand zu dem Geschwisterpaar, das sich angeregt miteinander unterhielt. Obwohl Larissa glücklich darüber zu sein schien, dass ihr Bruder sie endlich sehen konnte, war Panik in ihren Augen auszumachen. Irgendetwas muss geschehen sein, dass alle Sinne in dem Mädchen auf Alarmbereitschaft versetzte.

Kurz aber deutlich räusperte ich mich, um die Aufmerksamkeit der Zwillinge auf mich zu ziehen. „Lissa, darf ich dir Anna Griffith, meine Freundin vorstellen?". Erfreut lächelte sie und trat einen Schritt näher auf uns zu. Dann hob sie eine Hand und legte sie an die rechte Wange von Anna. „Es freut mich sie kennenzulernen und ich bin froh jemanden wie sie an deiner Seite zu wissen", sprach sie mit einem wissenden Ton in ihrer Stimme und legte die andere Hand an meine linke Wange. Ein Schauer der Liebe, durchfuhr mich. Mit einem Seitenblick auf Anna zeigte mir, dass diese Berührung auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen war. Ihre kleinen, feinen Härchen auf den Armen und im Nacken stellten sich senkrecht auf.

Leise flüsterte ich ihr zu, was Larissa soeben gesagt hatte, daraufhin schoss ihr die Röte ins Gesicht und färbte ihre Wangen zartrosa. Dieser Anblick raubte mir für einen Moment den Atem und mein Verstand ging pfeifend an mir vorbei.

„Ich unterbreche euch nur ungern bei was auch immer, aber es gibt derzeit wichtigere Dinge!". Wütend auf Linus, weil er die schöne Stimmung zerstört hatte, presste ich den Kiefer fest aufeinander und schoss zornige Blicke in seine Richtung. „Meintest du nicht auch, dass Larissa weg wäre?". Fragende Blicke trafen simultan Larissas, die sich auf die Lippe biss. „Ich kann nicht überall gleichzeitig sein. Auch Geister haben Probleme, die sie lösen müssen.", kam es eingeschnappt von ihr und sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was für Probleme?", hakte Linus irritiert nach. „Ich war auf der Flucht!". Erschrocken schlug sie Hände vor den Mund und schloss gequält von den Augen. Stirnrunzelnd sah ich sie an, dachte angestrengt über ihre Worte nach und stellte mir die alles entscheidende Frage. Auf der Flucht wovor? Scheinbar hatte ich laut gedacht, denn sofort bekam ich die Antwort auf meine Frage, „Vor dem Tod".

"Egal, es gibt Wichtigeres", unterbricht die Blondhaarige meinen aufkommenden Klärungsbedarf und fuhr sich fahrig durchs Haar. „Emery!", schoss es laut und zusammenhanglos aus Linus und stiftete Verwirrung bei jedem von uns. Stockend begann er von seinem Erlebnis im Badezimmer seiner Großeltern. Auch Larissa war Ähnliches widerfahren, doch um einiges verwirrender als bei ihrem Bruder. In mir begann die Vermutung zu reifen, dass dieser Emery etwas mit Linus plötzlichem Geister sehen zu tun hatte.

Es lag an uns ihn zu finden und ihn von, wo auch immer er war zu befreien. Denn die blutigen Handabdrücke waren Hilferufe an uns und so wie es schien, war es von größter Wichtigkeit ihn so schnell wie nur irgend möglich ausfindig zu machen. Wir mussten ihn aus den Fängen des Todes lösen und in Sicherheit bringen.

Lange standen wir an Larissas Grab, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie wir dies anstellen sollten. Immerhin wussten wir nicht, wo er steckte oder wie wir an ihn herankommen sollten. Plötzlich fing Larissa an zu schluchzen und hockte sich hin. „Es ist aussichtslos, wir werden ihn niemals finden!", weinte sie in ihre Hände, die sie vor ihr Gesicht geschlagen hatte. „Du wirst nicht aufgeben! Wir schaffen das. Gemeinsam!", knurre ich sie an, greife nach ihren Handgelenken und zwinge sie somit mich anzusehen.

„Lissa, du darfst ihn jetzt nicht aufgeben!", sagte Linus mit Nachdruck und stärkte mir somit den Rücken. „Ich vermisse ihn so sehr!" Der Satz war nur gehaucht und dennoch deutlich zu vernehmen. Kurz darauf stand sie auf und wischte die Spuren der salzigen Tränen fort. Ich konnte ihr ansehen, dass sie wieder neuen Mut fasste. „Vielleicht sollten wir überlegen, ob wie Orte kennen, an denen er sein könnte?", schlug Anna sanft vor, die sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. „Wenn wir an einem Ort bleiben, sind wir ein leichtes Ziel. Ziele sind schwerer zu treffen, wenn sie sich bewegen".

Verwundert starrte Linus sie mit weit geöffnetem Mund an. „Was?!" Jeder weiß das!", verteidigte sich meine Freundin schelmisch grinsend. Gott, wie ich diese Frau liebte! Eilig machte ich einen Schritt auf sie zu, zog sie an der Hüfte zu mir heran und küsste sie innig. An mehr bedurfte es nicht, um ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebte, denn in den Kuss legte ich all meine Gefühle.

Lasst uns aufbrechen", bestimmte ich, ohne auf die Meinung anderer einzugehen. „Wow, wow! Wartet", hielt Linus uns auf. „Wir wissen doch noch nicht einmal wohin wie gehen müssen" Alle Augen richteten sich auf Larissa, die blinzelnd mit dem Kopf in den Nacken gelegt zum Himmel hinauf sah. Ein Tropfen, der auf meinem Kopf landete, ließ mich ebenfalls hinaufsehen. Es begann zu regnen und der Wind frischte auf, was mich erschaudern ließ. Dies würde eine lange, dunkle und kalte Nacht werden.

Seufzend fuhr ich durch meine bereits feuchten Haare und wartete auf den nächsten Schritt, den wir tun würden. Wenn wir unseren Zug getätigt hatten, würde unser Feind seine auserwählte Figur setzen. Wir mussten mit Bedacht handeln und keine voreiligen Schlüsse ziehen, sonst würden wir schneller als wir schauen konnten schachmatt gesetzt werden.

Röchelnder Atem riss mich aus meinen Überlegungen. Die anderen hatten es ebenfalls gehört, denn sie schauten sich suchend um. Mitten auf dem Kiesweg stand eine vom Mond beschienene Person. Emery. Es war ganz eindeutig Larissas Geisterfreund. Er war blutbeschmiert und sah schlechter aus, als Linus beschrieben hatte. „Geräuschvoll und pfeifend holte Emery Luft. „Helft mir". Der Wind trug die Worte mit sich in die Nacht hinaus.

Ghost - Mein neues Leben #IceSplinters18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt