| Schritt für Schritt
|Larissa
Er war weg, einfach verschwunden. Zuerst dachte ich, er würde mich für verrückt halten und unverhohlen auslachen. Doch dann änderte sich sein Gesichtsausdruck in unbändige Angst und Verwirrung spiegelten sich in seinen Augen wieder.
Ehe ich Emery oder Thiago aus seiner Starre reißen konnte, war er bereits verschwunden. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
War er abgehauen? Wusste er etwa schon, wie er gestorben war? Und was war mit der Bedingung, auf die ich leichtsinnig eingegangen war?
Dieses Leben als Geist warf mehr Fragen auf, als das es meine beantwortete.
Nachdenklich schlenderte ich durch die Kleinstadt, in der ich 17 Jahre lebte. Vor einem kleinen Café blieb ich stehen und starrte zum Himmel hinauf. Von dort oben sah alles so viel einfacher aus.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als mir jemand, der wie aus dem Nichts erschien, ins Ohr pustete.
„Was machst du hier?" Orion sah mich fragend an und zu seinem Glück war niemand auf dem Fußgängerweg, der ihn gehört hätte. „Gedanken ordnen und aufwirbeln.", sage ich abwesend. Hinter Orion sah ich, Anna auf uns zu kommen. Plötzlich kann mir eine Idee, die ich sofort umzusetzen versuchte.
Als Anna fast unmittelbar hinter Orion war, schubste ich ihn in ihre Arme. Orion riss ungläubig die Augen auf und stieß einen verwunderten laut aus. Stolpernd fiel er in Annas Arme und versuchte noch mit rudernden Armen seinen Sturz zu verhindern.
Allerdings verlor Anna vor Überraschung das Gleichgewicht und stürzte mitsamt dem dunkelhaarigen Jungen zu Boden.
Als Orion sich von dem Schock erholte, rappelte er sich sogleich ungelenk auf und half anschließend Anna auf die Füße. Noch immer war die Überraschung in ihrem Gesicht geschrieben, woraufhin sie drei Mal blinzelte.
„Tut mir leid.", kam es demütig von Orion, doch ich wusste, dass er mich gedanklich verwünschte. „Schon okay, ich habe nicht aufgepasst.", wehrte sie ab und lief rot an.
Anna war eine unglaubliche Person, denn sie nahm Orion in Schutz. Na gut, er konnte ja nichts dafür, immerhin war ich es – doch Anna konnte mich nicht sehen.
„H-Hast du... Möchtest du etwas... Ich meine wir können...", stammelte Orion vor sich hin und brachte keinen vernünftigen Satz zustande. Irgendwie war es ja süß, wie sehr er sich bemühte, wiederum war es auch unglaublich peinlich, wie er sich aufführte.
Die beiden würden ein unfassbar süßes Paar abgeben und es war mir ein Rätsel, wie die beiden das nicht sehen konnten.
„Ich würde sehr gerne mit dir einen Kaffee trinken.", erwiderte Anna lächelnd und trat in das kleine Café neben uns. Erst wollte ich ihnen folgen, entschied mich jedoch anders. Orion war so weit sich von Larissa Shay zu lösen und sich Anna Griffin anzuvertrauen. Geister der Vergangenheit würden da nur stören und alles zunichtemachen.
Wieder einmal war ich allein. Wieder lief ich planlos durch die Kleinstadt und wusste nichts mit mir anzufangen. Vielleicht war es an der Zeit meinen Bruder zu besuchen oder ich machte mir genaue Gedanken über meine Aufgabe. Egal wie man es drehte oder wendete, ich kam auf keinen grünen Zweig mit mir und meinen Gefühlen.
Zu viel war geschehen, zu viel war ungeklärt und zu vieles würd in Zukunft passieren. Ich lief davon, wie ich es immer tat, wenn mir etwas zu viel wurde. Davonlaufen erschien mir in solchen Situationen die beste Option, aber eines hatte sich in diesem Punkt geändert. Ich war tot – ein Geist – und konnte nicht mehr davonlaufen. Es sei denn, ich wollte für immer und ewig in dieser Gestalt unter den lebenden wandeln. Da erschien mir ewig eine viel zu lange Zeit und deshalb würde ich dieses Schicksal mit beiden Händen fassen und aus der Welt schaffen.
Doch ich hatte Angst. Angst davor erneut zu sterben und das würde ich, wenn ich meinen Auftrag erfüllte. Das Licht oder das Tor zur Anderswelt würde mir offen stehen, dann konnte ich meine Eltern in die Arme nehmen und für immer in Frieden ruhen.
Eine Aussicht auf ein drittes Leben war nicht gegeben und das war gut so.
Ich wusste, dass ich nicht nur meinem Bruder helfen musste, ein neues und besseres Leben ohne mich zu beginnen, sondern auch Orion. Allerdings machte ich bei Orion bessere und größere Fortschritte als bei Linus.
Linus war wie ich – wir liefen beide davon. Wir hatten beide zu große Angst uns Veränderungen zu stellen und sie zu zulassen. Alles, was anders war, war schlecht – so dachten wir zumindest. Aber alles, was anders ist, ist gut und die Welt braucht Veränderungen. Erwachsen werden muss jeder und bei Linus gab es die Chance, dass er es werden würde.
Seufzend lehnte ich gegen meinen weißen Grabstein und starrte den Baum an, an dem Emery gelehnt hatte. Noch immer war kein Anzeichen von ihm zu sehen und ich zweifelte daran, dass es so schnell geschehen würde.
Für einen Moment schloss ich die Augen und sinnierte über die Welt und die Bedeutung des Lebens eines Menschen. Doch mir kam einfach kein plausibler Grund in den Sinn, weshalb wir hier waren. Wie waren wir hierher gelangt? Gab es wirklich einen Gott, welcher Adam und Eva auf die Erde schickte?
Ich konnte das Leben eines jeden Individuums infrage stellen, würde jedoch niemals eine Antwort bekommen. Es war eine Materie, der ich mich einfach nicht nähern konnte.
Ein Schrei hallte über den Friedhof und ich rannte, so schnell mich meine Beine trugen, zur Quelle des markerschütternden Schreis.
Meine Augen weiteten sich, als ich Emery sah, welche panisch mit den Armen um sich schlug. Tränen der Verzweiflung und der Angst liefen seine Wangen hinunter. Ein Bild, welches sich tief in mein Gehirn brannte und dessen Anblick mir tief in den Knochen steckte.
Nach Minuten der Unfähigkeit, konnte ich mich endlich bewegen und legte behutsam und beruhigend zugleich, die Arme und den verängstigten Jungen.
„Hilf mir.", flüsterte er mit zittriger Stimme und klammerte sich an mir fest. Beschützend schlang ich die Arme fester um ihn und flüsterte Nichtigkeiten in sein Ohr, um ihn zu besänftigen.
„Ich werde dir helfen, wenn du mir sagst, wie.", wisperte ich ruhiger Stimme und strich durch sein weiches dunkles Haar. Auf einmal verschwamm die Welt um uns herum und der graue Schleier, welchen ich zuvor schon einmal sah, legte sich über uns.
Von einer Sekunde auf die andere war ich nicht mehr in der menschlichen Welt, sondern in Thiagos Welt gefangen. Eine Aussicht auf entkommen sah ich nicht.
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Ghost - Mein neues Leben #IceSplinters18
Novela JuvenilEs gibt viele verschiedene Bedeutungen für den Tod und doch haben sie eines gemeinsam, die Endgültigkeit. Aber ist der Tod wirklich das Ende des Lebens oder gibt es ein Leben nach dem Tod? Bis vor ihrem Tod hat Larissa nicht an ein Leben nach dem To...