| Hourglass
|Linus
Es war wieder einmal ein schrecklicher Tag. Im Grunde waren die letzten 1099 Tage die schrecklichsten in meinem ganzen Leben. 1099 Tage ohne meine Familie – allein – auf dieser Welt. So viele Tage und ich wusste nicht mehr, was an diesen Tagen geschah. Die Zeit – 1576800 Minuten – verging wie im Flug. Sie war nicht zu stoppen, ich konnte sie nicht anhalten. Es war egal, alles war egal.
Ich wusste nicht, wie ich aus meiner Lethargie erwachen sollte. Wusste nicht, was mich dazu antreiben sollte. Selbst der modrige Geruch, der durch das Haus zog, wie ein Geist ohne Form kümmerte mich nicht. Nicht einmal mein eigener Gestank brachte mich dazu aufzustehen. Still und leise vegetierte ich vor mir her und ließ die Zeit wie Sandkörner verrinnen. Bis es zu spät ist, die Sanduhr wieder umzudrehen und von neuem zu beginnen.
Ich spürte nichts – nicht einmal meinen Körper. Fast schwerelos liege ich auf dem Boden im Wohnzimmer. Die Dunkelheit liegt wie eine schützende Decke über mir und hüllt mich ein. Ich heiße sie willkommen, heiße die bösen Geister der Vergangenheit willkommen.
Die Sanduhr hat einen Riss. Er ist zwar klein, aber ich kann ihn sehen, denn ich habe ihn verursacht. Ich bin schuld – wie an so vielem. Alles meine Schuld.
Vielleicht ist es Zeit zu gehen. Vielleicht ist meine Zeit auf der Erde abgelaufen. Jeder Mensch hat ein Verfallsdatum und meines ist bald erreicht. Bald bin ich frei...
Das Klingeln der Haustür war so weit weg, als es in einem Traum. Ich träume, von der Dunkelheit und dem Glockenschlag der Engel. Träume von inneren Frieden und der Freiheit. Ich träume von meiner Schwester und von Orion.
Orion, wieso gerade er? Ruft er nach mir? Komme ich vielleicht doch in die Hölle?
„...mach auf!...Linus!" Eine Stimme, sie klingt dumpf, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Klingeln. Schwerfällig öffnete ich nach dem dritten Versuch die Augen und werde schlagartig in die Realität katapultiert. Kein Traum! Es war kein Traum – nur meine trüben Gedanken, welche die überhand gewonnen haben.
Ungelenk und mit steifen Gliedern stand ich von Boden auf und torkle zur Tür. Mein Kopf brummt und mein Mund ist trocken. Ich fühlte mich, wie nach einer langen und durchzechten Nacht. Dabei hatte ich seit Wochen keinen Tropfen mehr angerührt.
Vor der Haustür blieb ich einige Minuten stehen, um meine Augen an das grelle Licht der Sonne zu gewöhnen. Dann öffnete ich die Tür und sah einen erzürnten Orion mir stehen. Zum Glück war es kein Traum.
„Na endlich, ich habe eine gefühlte Ewigkeit geklingelt und gerufen!", echauffierte sich der Schwarzhaarige und drängte sich, ohne zu fragen ins Haus. Verdutzt und noch mit einem Fuß in der Bewusstlosigkeit, schloss ich die Tür. Missbilligend sah ich dabei zu, wie der Ex-Freund meiner verblichenen Schwester die schweren Vorhänge der Wohnzimmerfenster aufriss.
„Bist du ein Vampir oder weshalb lebst du hier im Dunkeln und meidest die Sonne, wie die Pest?", erkundigte sich Orion mürrisch und im gleichen Moment sah er aus, als würde er dazu gezwungen werden. „Hm..", war alles, was ich hervor bringen konnte und merkte sogleich, wie durstig mein Körper war.
„Was willst du eigentlich hier?", fragte ich skeptisch, nachdem ich zwei Gläser Wasser getrunken hatte. „Frag deine Schwester", brummte der Angesprochene, rümpfte angliedert die Nase und ließ sich auf das Sofa fallen.
Wehmütig lächelte ich, bis ich seine Worte tiefgründiger interpretierte. Sie war hier! Meine Schwester, Larissa, war hier in diesem Augenblick. Mein Gemütszustand wechselte von wehmütig auf überglücklich bis zu hin zu traurig. Ich könnte sie nicht sehen, konnte meine Schwester nicht sehen.
„Sie will etwas mit uns besprechen oder besser gesagt ihr verwegener Freund", teilte Orion mir mit, der wohl etwas verspätet begriffen hatte, das nur er sie sah. „Verwegener Freund?"
„Ja, den hat sie wohl irgendwo aufgegabelt. Er ist genauso wie sie – ein Geist" Verstehend nickte ich und ließ mich in den Sessel fallen, der schräg gegenüber von dem Sofa stand. Stille kehrte ein, in der ich Orion aufmerksam beobachtete. Seine Mimik erzählte mir, dass er etwas oder jemandem aufmerksam zu hörte.
Ich fühlte mich fehlplatziert und überflüssig, einfach wie ein drittes Rad am Wagen.
„Willst du mir verraten, was ihr besprecht?", fragte ich Orion müde und Stütze meinen Kopf in der rechten Hand. Der Angesprochene sah mich verwirrt an, ehe er sich mit einer Hand gegen die Stirn schlug. „Entschuldige, ich habe total vergessen, dass du sie nicht sehen geschweige denn hören kannst"
Abwartend sah ich den Dunkelhaarigen an und wappnete mich innerlich vor dem Kommenden.
Wie in einer Sanduhr verrinnt das Leben. In einer Sanduhr stecke ich fest – es gibt kein Entkommen. Gefangen in einem Leben voller Trostlosigkeit und Reue. Die Zeit verrinnt, wie tausend kleine Sandkörner, die sich zu einem Haufen Türmen. Ein Scherbenhaufen meiner selbst, irreparabel und vom Pech verfolgt. Wie in einer Sanduhr verrinnt mein Leben. Sandkorn um Sandkorn.
| Railey Winter
DU LIEST GERADE
Ghost - Mein neues Leben #IceSplinters18
Novela JuvenilEs gibt viele verschiedene Bedeutungen für den Tod und doch haben sie eines gemeinsam, die Endgültigkeit. Aber ist der Tod wirklich das Ende des Lebens oder gibt es ein Leben nach dem Tod? Bis vor ihrem Tod hat Larissa nicht an ein Leben nach dem To...