| Kapitel 19

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| Erinnerungen an Rachel

|Linus

Es war verrückt, absolut und unfassbar verrückt. Mich hatte nie etwas dazu bewogen, an übernatürliche Phänomene zu glauben. Aber aus irgendeinem Grund glaubte ich Orion, wenn er mir sagte, dass Larissa auf irgendeine verquere Weise am Leben war.

Ich spürte es einfach, nicht körperlich, aber innerlich. Spürte meine Schwester, als stünde sie direkt neben mir.

Ich wünschte alles wäre wie früher. Larissa und meine Eltern wären noch am Leben und wir würden glücklich zusammen sein.

Aber kein Wunsch auf dieser Welt und dieser Art würde jemals in Erfüllung gehen. Ich war allein für immer und das hatte ich verdient.

Eine lange Zeit war ich ein sehr schlechter Sohn, aber ein noch viel schlechterer Bruder gewesen. Als sie meinen Rat und meinen Beistand brauchte, habe ich sie im Stich gelassen. Sie war immer für mich da, unabhängig davon, wie es ihr ging.

Aber ich Egoist habe nie zugelassen, dass andere um mich herum glücklich wurden - nur weil ich es auch nicht war. Erst musste es mir gut gehen, ehe es die anderen auch sein konnten.

Jetzt war es zu spät und es war meine Schuld. Für all die Dinge, die ich getan und gesagt habe, konnte ich mich nicht mehr entschuldigen. Sie waren unglücklich wegen mir.

Ich tat es immer noch, ich bin immer noch egoistisch. Gemerkt hatte ich es, als Orion auf Anna traf und als Rachel mir über den Weg lief. Doch jetzt... Jetzt war Larissa wieder da und ich konnte mich für all meine Fehler entschuldigen und sie um Verzeihung bitten. Ich konnte ihr endlich sagen, wie sehr ich sie liebte und wie sehr ich sie vermisste. Ebenso will ich ihr sagen, dass ich hätte mitfahren sollen und nicht sie – doch ich war zu egoistisch.

Immer habe ich nur an mich und mein Wohlbefinden und meine Bedürfnisse gedacht. Nie kam mir in den Sinn auch einmal andere zu denken, wie zum Beispiel meine Schwester, die mit ihrem Freund das Wochenende verbringen wollte. Ich habe sie überredet an meiner Stelle mitzufahren, damit ich Zeit mit meiner Freundin verbringen konnte.

Rachel...

Ich sollte sie anrufen, ihr sagen, dass ich sehen möchte. Auch bei ihr musste ich mich entschuldigen. Ganz besonders für mein Schweigen und das ich ihr Hoffnungen gemacht habe und noch immer machte. Doch ich traute mich nicht, denn ich hatte keinen Mut und kein Selbstvertrauen, um den Mund aufzumachen.

Ein schlechter Mensch, das war ich.

Sollte ich eines Tages sterben, dann komme ich ganz bestimmt in die Hölle. Jeder stirbt einmal, aber ich würde noch nicht heute das zeitliche Segnen. Auch wenn ich dann bei meiner Familie sein würde und der Selbsthass sich verflüchtigte.

Es gab zu viel, was mich hier festhielt, zu vieles war unausgesprochen und zu wenig hatte ich gelebt.

Wie in Trance wählte ich die Nummer von Rachel, doch ehe das Freizeichen ertönte, legte ich wieder auf.

Feigling, schrie meine innere Stimme und ich vergrub mein Gesicht in einem der Sofakissen.

Ich war so unglaublich erbärmlich, so unfassbar armselig!

Meine Mutter hatte einmal gesagt, man müsse erst die Steine der Vergangenheit aus dem Weg räumen, um den Weg in die Zukunft unbeschwert beschreiten zu können.

Die Steine meiner Vergangenheit waren große und harte Felsbrocken. Es würde kein Leichtes sein, sie aus dem Weg zu räumen.

Wenn ich daran dachte, mein Leben in die Hand zu nehmen und mir Gedanken, um meine zukünftige Sicherheit zu machen, wurde mir ganz übel.

Seit einiger Zeit wünschte ich, dass etwas Ausschlaggebendes passierte, was mich dazu zwang aus meiner Komfortzone zu kriechen. Einen kräftigen Tritt in den Arsch, das konnte ich gebrauchen.

Dich stattdessen saß ich hier in meinem körpereigenen Müll und dachte an Rachel. Dachte an unsere Beziehung und wie glücklich ich war, bevor der Unfall passierte.

Ich vermisste sie, mehr als ich es mir eingestehen wollte. Ihre wunderschönen und strahlenden braunen Augen vermisste ich. Mir fehlten ihre zauberhaft weichen und hellbraunen Haare, die ich immer verträumt zwischen meinen Fingern zwirbelte.

Ihr glockenhelles Lachen klang noch immer in meinen Ohren, als wäre es die Melodie meines Lebens.

Rachel hatte mich immer zum Lachen gebracht und auch so manches Mal bedeutende Momente damit zerstört. Aber so war sie nun mal – meine Rachel.

Jetzt wurde mir unweigerlich bewusst, dass ich nie aufgehört hatte, sie zu lieben.

Abermals griff ich nach dem Telefon und wählte ihre Nummer. Das Freizeichen ertönte erneut, doch wieder legte ich auf, bevor jemand den Anruf entgegen nehmen konnte.

Feigling!

Ich konnte es ihr einfach nicht sagen. Konnte mich ihr jetzt einfach nicht stellen – meinem ersten Stein der Vergangenheit.

Die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit schmerzte zu sehr in meinem Herzen. Bevor ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, musste ich die anderen Steine beiseite räumen, um mich mit ganzem Herzen meiner Liebe zu widmen.

Ghost - Mein neues Leben #IceSplinters18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt