| Kapitel 10

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| Weil du fehlst...

|Linus

„In Gottes Namen, Linus! Wieso nimmst du nicht endlich unser Angebot an und kommst zu uns!", keifte meine Großmutter in den Hörer. Genervt fuhr ich mir durch mein blondes Haar und schloss die Augen. „Nein, Granny, ich werde nicht zu dir und Großvater kommen. Ich komme auch ohne euch gut zu Recht", erwiderte ich monoton und unterdrückte ein genervtes Aufstöhnen.

„Aber Linus, Schätzchen! Du bist doch noch viel zu jung um auf dich selbst achtzugeben. Überlass dies doch uns", beharrte Großmutter darauf, doch sie konnte so lange warten, bis sie schwarz werden würde. „Granny, ich muss jetzt Schluss machen. Bis dann und Grüße Grandpa von mir", verabschiedete ich mich von ihr und legte, ohne eine Antwort abzuwarten auf.

Ich liebte meine Großeltern keine Frage, aber an manchen Tagen wünschte ich mir, sie wären nicht immer so aufdringlich und würden mich mein eigenes Leben leben lassen. Kopfschmerzen pochten hinter meiner Stirn und drückten auf die Augen. Stöhnend ließ ich mich auf das Sofa fallen und massierte den Nasenrücken zwischen meinen Augen.

Die Tage verstrichen rasant und ich wusste nie, wann es Zeit war, um eine Kleinigkeit zu essen. Seit dem Tod meiner Familie habe ich kaum gegessen oder hatte gar keinen Appetit.

Lustlos schlich ich Tag für Tag im Haus herum, mied dabei die beiden Zimmer und versuchte meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Doch vergebens, denn immer und immer wieder kreisten meine Gedanken um die eine Sache und um den einen Gedanken. Den Tod meiner Eltern sowie dem meiner Zwillingsschwester und ich wurde den Gedanken nicht los, dass ich es hätte verhindern können.

Die Schuld lastete schwer auf meinen Schultern, ließ mich zweifeln und in meiner Trauer versinken. Ich war am Boden, nicht nur emotional, sondern auch körperlich. Mir wurden Teile meiner Existenz entrissen, die niemand wieder zu heilen vermochte. Es ist immerhin nicht wie bei einem Puzzle, dessen Teile man einfach an die passende Stelle setzen muss, um es zu vervollständigen.

Eilig rieb ich mir über die Augen, da sie wieder begannen, zu brennen und meine Sicht zu verschwimmen. Tränen hatte ich in den drei Jahren schon mehr als genug vergossen, doch dies schien meinen Körper nicht zu kümmern.

Mit schlurfendem Gang begab ich mich in die dunkle Küche und goss mir ein Glas Wasser ein, welches ich jedoch nicht trank. Stattdessen stand ich gedankenverloren an der Spüle und schaute den Wassertropfen dabei zu, wie sich einen Weg am Glas hinab auf die Arbeitsfläche bahnten.

Wassertropfen.

Sie sahen aus wie Tränen, wie kleine farblose Tränen ohne den kleinsten Geschmack von Salz. Jetzt stellte ich mir die Frage, weshalb Tränen nach Salz schmeckten und wieso unser Körper sie überhaupt produzierte. Meiner Meinung nach waren sie überflüssig und hatten keine tiefere Bedeutung, als das sie Traurigkeit und Schwäche ausdrückten.

Larissa würde mir auf den Hinterkopf schlagen für diese trübsinnigen und dummen Gedankengänge. Sie würde sagen, das Tränen kein Zeichen der Schwäche seien, sondern ein Ausdruck dafür, dass man schon viel zu lange stark gewesen war und es an der Zeit war etwas Kraft zu tanken.

So war meine Schwester, sie hatte immer etwas Gutes in den Dingen gesehen, egal wie unbedeutend sie auch waren. Larissa hatte meine kleine graue und unbedeutende Welt etwas Fröhlicher und Farbenfroher gemacht. Sie hatte mir gezeigt, wie es ist, mit guten Dingen in den Tag hinein zu leben, aber das konnte ich jetzt nicht mehr, das schaffte ich nicht aus eigener Kraft.

Doch um Hilfe zu holen, war ich einfach zu stolz und eitel.

Trauer war nun mein Lebensinhalt - Trauer gab mir die Kraft, jeden Morgen von neuem aufzustehen und dem Tag überhaupt entgegen zu blicken. Sie war die Luft, welche ich atmete, das Wasser, welches ich trank und das Essen, welches ich nicht anrührte.

Ich weiß selbst, dass dies kein Leben im eigentlichen Sinne war. Es war ein vor sich hin vegetieren und ein darauf warten, dass etwas Gutes passierte, an dem man sich nach oben hangeln konnte. Damit man wieder aufrecht stehen und gehen konnte, aber auch, damit man wieder zu sich selbst fand.

Je länger ich über das Leben nachdachte oder über das Nicht-Leben, desto deutlicher führte ich mir vor Augen, dass ich nicht alleine mit meiner Trauer war. Ich rede nicht von meiner verbliebenden Familie, Orion oder Lissas Freunden, sondern von all den anderen Menschen in dieser Welt, die ebenfalls einen Menschen an den Tod verloren hatten.

Ein leises Lachen entfuhr mir und ich fragte mich, weshalb ich meine Gedanken immer und immer wieder derart ausbauen musste. Mit diesen Gedanken zog ich mich selbst und ohne fremde Einwirkung in ein tiefes Loch.

Es war schwer es nicht zu tun und viel unkomplizierter nicht dagegen anzukämpfen.

Kämpfen.

Ich wollte nicht mehr kämpfen, gegen nichts und niemanden. Einfach frei sein und nichts mehr fühlen – schweben.

Ein Pochen in meiner Hand ließ mich aus meinen Gedanken auftauchen und hinab blicken. Sie blutete erneut, da ich sie gedankenvertieft zu fest zugedrückt hatte. Eilig hielt ich sie unter fließend kaltes Wasser, wodurch mir ein Stöhnen des Schmerzes entfährt.

Das Klingeln der Haustür ließ mich zusammenfahren, eilig stellte ich das Wasser ab und rannte zur Tür.

„Was willst du hier?", fragte ich ausgerechnet Orion, der vor der Tür stand. Meine Stimme klang scharf, und wenn er glaubte, ich hätte es nicht beabsichtigt, dann irrte er sich gewaltig.

„Kann ich reinkommen?", erkundigte er sich vorsichtig. „Es ist wichtig!" Spöttisch schnaubte ich und ersticktes Lachen entwich mir. „Was könnte so wichtig sein, dass du mitten in der Nacht hier auftauchst" Missgestimmt schloss ich die Tür, doch bevor sie endgültig ins Schloss fiel, steckte Orion ein Fuß zwischen Rahmen und Tür.

„Es geht um Larissa"


Ghost - Mein neues Leben #IceSplinters18Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt