zehn. über schmerz und angst

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Freitag, der fünfte Tag der längsten Woche.

Die Verbindung wurde aufgebaut.
Ein Finger wickelte sich in das gedrehte Kabel.
Ein Herz schlug so schnell wie von einem Hasen auf der Flucht.
Ein Rauschen.
Eine rauchige Stimme auf der anderen Seite.

Es regnete, die Luft drückte auf die Straßen hinab. Ihre Augen folgten automatisch den sich hinunter schlängelnden Regentropfen, die eine Spur durch den Dreck am Fenster zogen. Die Uhr tickte lautstark in ihrem Zimmer, monoton und echt zum Irre werden.
"Hallo.", brachte sie kratzig hervor, nach einer Minute, in dem sie nur nach einem passenden Anfang in den Windungen ihres Gehirns gesucht hatte. Ihre kalten Fingerspitzen glitten über den blauen Zettel "ruf mich an".
"Hey. Ich dachte schon, du hättest wieder aufgelegt.", ertönte ihre warme Stimme, die ein Knistern in der Leitung herstellte. Ada schüttelte unmerklich ihren Kopf und setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtisches. Sie fühlte, wie ein Schütteln durch ihren gesamten Körper ging, ihre Beine sich knochenlos anfühlten, und alles zu vibrieren schien. Ihre Augen starrten in das Nichts und sie hatte das Gefühl, die Ästhetik dieses Momentes riechen zu können. Der Himmel und die Atmosphäre waren in ein dunkles blitzblau gehüllt; und sie lehnte sich gegen die kalte, mit Holz verzierte Wand.
"Warum sollte ich das tun? Immerhin bin ich deinen Worten gefolgt.", sprach sie und glitt mit ihren Fingern ihre Gänsehaut entlang. Die Bewegung war federleicht und spielte sich beinhahe automatisch ab, sodass die bloße Tatsache, sich nicht darüber Gedanken zu machen, ob dies mit Tess genau so leicht passieren könnte, wie der größte Unfug seit der Diskriminierung aussah.
"Ich", Tess atmete geradewegs in das Mikrofon und es war mehr als beruhigend einen handfesten Beweis zu haben, dass all das real war und genau in diesem Augenblick wirklich geschah, dass diese Anmut in Person, sich ihr widmete und das voll und ganz, "weiß auch nicht. Ich denke, ich schätze, ich bin einfach nicht so gut darin Personen zu vertrauen oder ihnen gar etwas Gutes zu zu trauen."
"Sollte ich mich diskriminiert, beleidigt fühlen?"
"Ich meine nicht, dass ich von dir nichts erwarte, doch du gehörst zu diesen Menschen, die den ganzen Weltschmerz alleine auf ihren Schultern tragen, und ich will dir nicht noch mehr, wie bei einem Gaul, auf den Buckel platzieren. Also sieh es als Tribut meines verinnerlichsten Respekts vor dir.", lachte Tess und rührte ihren Tee um. Pfefferminz, der bis zu Ada hinüber zu qualmen schien.
"Ich danke.", erwiderte Adaine dann begeistert und klopfte mit ihrem Fuß gegen das Tischbein.
"Aber jetzt sag mir erst einmal, warum du mich jetzt plötzlich angerufen hast. Die Nummer liegt schon ein paar Tage dort.", bemerkte die Blonde und drückte ihr Ohr näher an den Lautsprecher. Ada schluckte, es gab keinen tatsächlichen, handfesten Grund, außer das Gefühl in ihrer Brust, noch nicht das ganze Potential aus ihrem Leben geschöpft zu haben. Und wie viel Zeit blieb ihr schon noch groß, um frei und lustig und heiter und rebellisch zu sein, sie war an der Schwelle zum Erwachsen-werden, war sie doch schon stolze Siebzehn. Wenn es gut lief würde sie noch acht Jahre haben, doch dann wäre es endgültig vorbei mit dem sich kreativ austesten und sie müsste sich der Normalität fügen.
"Ich wollte nur sicher gehen, dass du nicht neben einem Obdachlosen am Karlsplatz mit Heroinnadel in der Hand liegst."
Tess spuckte vor Lachen ihren Tee beinahe wieder in die rote Tasse zurück. Dann fasste sie sich, stellte das Keramikgefäß ab und sagte: "So charmant hast du noch nie eine Lüge verpackt!"
Ada zuckte mit den Schultern; "Man muss sich heutzutage außergewöhnlich und anormal anstellen, um in Erinnerung zu bleiben."
"Du musst das nicht."
"Jetzt musst du mir auch etwas erzählen.", hauchte Ada und zerkaute die Hautfetzen, die von ihrer Unterlippe ausgingen, "Wie bist du in mein Zimmer gekommen?"
Tess ließ sich aufs Bett fallen.
"Fragen, die sich das Universum stellt. Fragen, die gleich nach "wann gibt es endlich Weltfrieden?" und nach "warum verdammt ist Tess van Beek so intelligent und gewieft?" kommen.
Meine Liebste, ich wünschte ich könnte sie dir beantworten, doch es war die Nachtigall und nicht die Lerche und ich, ich schweige. Das ist mein Zauber, das musst du wissen. Doch eins kann ich dir versprechen, falls du Angst schürst; Ich werde dich nie belästigen. Ich werde dir nie folgen, wenn du gehst. Ich werde dich nie stören, wenn du dich fässt."
"Aber will man nicht, dass Leute einem folgen? Folgen, wenn man ansetzt zu gehen?", warf Ada ein.
Tess blickte panisch auf ihre Finger.
"Nur Menschen, die traurig sind."
Ihre Stimme war nicht die einer Person, die nicht nach Schmerz triefte. Und Ada verstummte bei diesem Satz, weil sie beim besten Willen nicht wusste was zu antworten richtig gewesen wäre. Dieses Mal war sie sprachlos, und irgendwie gefiel ihr das Gefühl nicht, sie fühlte sich ausgeliefert und nackt. Sie wollte nie wieder ein Wort sprechen und sich am besten hinter einem anderen Universum verkriechen, nur um dieses Gespräch nicht weiter führen zu müssen. Irgendwas in ihr sträubte sich mit aller Kraft dagegen, ihre Stimmbänder einzusetzen und sie war sich nicht mehr sicher, ob das alles überhaupt noch real war oder sie schon in der anderen Realität gelandet war. Tess' Stimme klang dumpf und surrealistisch, unecht, wie aus Plastik.
"Ada; hast du Angst gerade? wenn ja, dann beruhige dich, du brauchst keine Angst vor der Angst zu haben. Furcht ist reiner Selbstschutz, akzeptiere sie als solche. Sie wird dir nichts tun."
Ob Ada Angst hatte? Jeder Mensch hatte Angst. Doch ob Ada das in dem Moment fühlte? Vermutlich nicht. Wahrscheinlich fiel sie bloß gerade und wollte sich nicht an Tess festhalten, aus Angst, sie würde sie mitertränken. Also ja, irgendwo hatte sie Angst und auf jeden Fall Angst vor der Angst.

"Ich kann das nicht, Tess. Ich bin am Ende.", keuchte Ada erstickt und spürte förmlich all ihre Gedanken auf sie einprasseln.
"Ich kann auch nicht mehr, und das obwohl wir noch so jung sind.", lachte sie und schmeckte die beißende Pfefferminze auf ihrer Zunge.
"Unser Leben ist doch schon wie gut wie vorbei."
"Für mich ist Zeit immer relativ. Ich habe das Gefühl mein Dasein ist unnötig und ich habe nicht das Gefühl, dass ich was in deinem Leben ändere.", brachte sie hervor und spürte den bekannten Druck hinter ihren Augen.
"Was ist mit dir los? Beruhige dich."
"Wie soll ich mich beruhigen? Ich fühle mich unnütz."
"Ich wünschte ich könnte es auf die Pubertät schieben, Liebes, aber manche Menschen haben diesen Schmerz im Blut. Es tut mir so unendlich leid."

Tess wusste, dass Adas Leben auf der Erde nur eine begrenzte Freude ihrerseits sein würde, doch sie gestand es sich nicht ein. Fernab davon, dass sie sich schon vorstellte, wie sie alleine im Schaukelstuhl saß und sich dachte;
"immer wusste ich, dass es so kommen würde, doch verhindern hätte es niemand können, nicht einmal sie selbst."
"Es tut mir leid, wenn ich dich damit verletzt habe.", stotterte die Braunhaarige und starrte an die Decke. Ihr Kopf war leer und der Regen hatte aufgehört. Nur ein Satz ließ ihre Schultern nicht frei: "ich habe noch nie darin versagt zu versagen"
Die Blonde atmete tief aus, als würde sie all ihre Sorgen auspusten können, und sehnte sich danach, Ada in ihren Armen halten zu können. Andererseits wusste sie, dass ihre Freundin nicht in der Verfassung dazu war und es wahrscheinlich auch nicht mehr so schnell sein würde.
"Du würdest mich nie verletzen, mit deinen Gefühlen. Gefühle kann man nicht beeinflussen und Angst ebenso wenig. Wie fühlst du dich gerade? Mich interessiert das, dann habe ich den Eindruck, dich besser verstehen zu können."
Ada schluckte und sagte so schmerzlich, dass es beinahe schon wie ein Todesächzen klang; "Schmerz."
Und nun war Tess sprachlos. Sie warfen diesen Ball mehrere Minuten hin und her, mal weinte die Blonde fast, mal Ada und immer wieder wurde ihnen klar, dass jeweils die andere Recht behielt.

"Auch solche Gespräche sind notwendig. Zur Weiterentwicklung und dem Verständnis. Ich glaube, dass man die ganze Welt in der Psyche eines Menschen finden kann."
Als Tess das so mutig sagte, löste sie etwas warmes, ruhiges in Adaines Inneren aus, sie musste sich nicht mehr verstecken und kroch aus ihrer Realität hervor. Der Satz war einfach zu kostbar, um etwas darauf zu erwidern. Und auch wenn die Liebe zu Tess eine Absurdität, eine Wahnvorstellung aus Adas Kopf war, hatte sie das Gefühl, sich dadurch einen Schritt zu bewegen. In welche Richtung war nur noch immer unklar. Ada genoß, wie Tess nichts etwas ausmachte, und hoffte, dass sie irgendwann mal jemand anderen mehr als sich selbst lieben konnte.

Als sie aufgelegt hatte, war sie wieder leer.

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