Mittwoch, der dritte Tag der längsten Woche.
als ada in der früh aufwachte, war tess bereits weg. wer weiß schon, wohin sie ging. man konnte tess nicht halten und ada wollte nicht gehalten werden.
"Doch da war Jordan neben mir, die, anders als Daisy, zu klug war, um je wohlvergessene Träume von einem Lebensabschnitt in den anderen zu tragen."
Ada fuhr mit ihrem Zeigefinger über die alten Seiten und ausgeblichenen Zeilen. Neben diesem Satz stand etwas geschrieben, in einer unordentlichen, kaum lesbaren Schrift.
träume vergisst man nicht so einfach, und träume verblassen niemals. man trägt sie zwangsläufig in den neuen lebensabschnitt mit.
Die Braunhaarige hatte das Gefühl, sie würde die königsblaue Tinte verschmieren, würde sie zu lange darüber reiben, weshalb sie ihren Finger langsam von dieser Stelle weg hob. Sie fühlte sich, als hätte sie etwas gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Sie konnte nicht definieren, ob ihr dieses Ziehen im Bauch gefiel oder nicht. Ada hatte genug gelesen für heute, in ihrem Kopf rumorte es und ihr Gehirn knallte bei jeder noch so kleinen Bewegung gegen ihren Schädel.
Also schlug sie das Buch auf der letzten Seite auf, nur um zu sehen, was denn der Schlusssatz war. Warum tat sie das immer wieder und wann verdammt ist das zu einer ihrer vielen lästigen Angewohnheiten geworden?
so kämpfen wir uns voran wie schiffe gegen die strömung, unaufhörlich zurück ins vergangene getrieben
"Wie aussagekräftig.", murmelte sie und blätterte weiter.anhang
Sie runzelte die Stirn, da dieser an die fünfzig Seiten umfasste, und glitt mit ihrem Fingernagel über den Rand.
"Seit wann sind Anhänge so lang?"
Ada schlug die erste Seite auf, ein staubiger Geruch schoss ihr in die Nase. Es roch typisch nach alten Büchern und ein bisschen sanft, als hätte jemand vor langer Zeit das Buch einparfumiert. Doch welcher Idiot würde das schon tun? Tess würde das tun. Ihre Augen schienen nicht fokussieren zu können, weshalb sie sie noch einmal schloss und dann stur auf das erste Wort starrte.
"Eine Art Biographie.. ätzend.", stöhnte sie und sah weiter, sie suchte sehnlichst nach Zeilen, die von Tess unterstrichen worden waren. Sie hatte das Gefühl ihr und ihrem Kopf dann einmal näher zu sein. Sie meinte, es müsse immerhin einen Grund geben, weshalb diese Sätze in ihr etwas ausgelöst haben. Vielleicht konnte sie sich damit identifizieren.Sie sang "hungry eyes" mit, es lief in Dauerschleife. Sie musste zwar immer am Ende aufstehen, nur um die Nadel neu aufzusetzen, aber das war erträglich. Es zahlte sich eben doch aus, Hilfe beim Zusammenräumen zu leisten. Katharina hatte sie ihr mit einem Lächeln übergeben als sie fertig waren, ihre Lippen waren rotstichig und sie hatte eine Dauerwelle in den Haaren. Auf einen Bild in Adas Vaters alter Wohnung, als ihre Mutter an die neunzehn war, hatte sie ebenfalls eine Dauerwelle. Es stand ihr, irgendwie. Das Bild war ohnehin hervorragend. Sie sah sowieso hervorragend aus.
"Aber was ist wenn ihm das auffällt?", hatte Adaine gesagt, aber nahm ihr die LP dennoch ab. Der Karton war eingestaubt und die Ecke abgeschlagen.
"Ada, nicht alle Platten gehören ihm.", grinste sie und ließ sich auf der Ledercouch fallen. "Er hat zwar die meisten, aber ich habe auch welche. Dein Opa hat sie mir damals geschenkt. Da fällt mir gerade ein, wie sehr er meine Schlager immer gehasst hat. Ich habe sie trotzdem gespielt, sie klangen nun mal toll."
Ada wurde immer mulmig zumute, wenn das Thema "Antonio Opa" auf den Tisch kam. Er war zwar nicht Katharinas leiblicher Vater, doch sie hatte ihn geliebt als wäre er es gewesen. Sie standen sich also nah, und auch wenn er nicht immer fair zu ihr oder ihrer Mutter war, hatte er sich Mühe gegeben, so sagte Katharina immer. Ada konnte sich erinnern, wie Antonio verstarb. Katharina auch. Jeder, der Letztere gesehen hat, würde das nie mehr vergessen können. Ada umging für gewöhnlich das Thema, doch nun hatte ihre Mutter angefangen, sie wollte darüber reden. Und das war in Ordnung, irgendwie musste man damit klarkommen. Ada setzte sich nun hin, vis-à-vis von der Rotlippigen und lauschte ihren Erzählungen. Irgendwann würde sie darüber schreiben, das wusste sie. Katharina meinte, er hätte "der große Gatsby" geliebt, und als Ada das wieder einfiel, wandte sie noch interessierter um, vermutlich sah sie irre aus, doch auf der zehnten Seite wurde sie fündig und ihr Herz sprang ihr aus der Brust. Sie wusste selbst nicht wonach sie gesucht hatte, oder warum sie gesucht hatte.jay gatsby wird nicht von seiner körperlichkeit und den äußeren umständen seines lebens beherrscht, sondern von der vorstellung, die er von sich hat
Ada runzelte die Stirn. Dieser Satz hinterließ einen bitteren Beigeschmack, als sie ihn über ihre Lippen gleiten ließ und die Wörter inhalierte. Automatisch eilten ihre Augen gierig zu den nächsten Markierungen. Dort stand, dass Gatsbys Liebe eine Wahnvorstellung war, und dass er die Zeit zurück drehen wollte, zu einem bestimmten Moment, weshalb er im totalen Gegenstatz zu der Realität stand. Wollte Tess ihr oder jemand anderem damit etwas sagen? Das war doch alles absurd. Sie blickte weiter, doch auf keiner Seite stand erneut etwas und sie verzweifelte, blätterte hektischer, bis alle Worte verschwammen und sie auf der allerletzten Seite des Buches angelangt war. Und siehe da - eine Notiz.
ich weiß, dass du nicht zu ende gelesen hast, dafür bist du viel zu zügellos. eigentlich schade, befasse dich mal mit der thematik, hat mich echt umgerissen. wie dem auch sei, ja, du bist äußert durchschaubar; so sehr, dass es fast schon wieder ekelhaft ist. und ja, ich will dir mit den markierungen etwas sagen, wach auf.
ich weiß, dass du gerade entsetzt bist, oder was auch immer. wenn du bereit bist die wahrheit zu erfahren, dann ruf mich an. auf deinem tisch liegt meine nummer. nein, es ist nicht die wahrheit über mich, die musst du selbst ergründen.
M.Das Problem war nur, dass sie unergründlich war.
Ada rollte mit den Augen und schmiss das Buch quer durchs ganze Zimmer.
"Was für ein Schwachsinn.", tat sie es ab, "Die blufft doch nur."
Sie ließ sich nach hinten fallen, ihr Oberkörper hüpfte aufgrund der Matratze noch einmal in die Höhe, doch dann kam sie zum Stillstand und breitete ihre Arme aus, wie damals, beim Schneeengel machen. Als würden ihre Hände das automatisch machen, rieb sie sie auf und ab, und stellte sich vor, sie würde wirklich im Schnee liegen. Ada schloss ihre Augen und begann zu schmunzeln. Sie spürte sogar, wie etwas sanftes ihre Haut ertastete, wie ein Schleier von etwas Unbekannten ihren Körper umhüllte. Weiße Pfingstrosenblätter fielen auf die nackten Stellen hinab und hinterließen ein Kribbeln, rosa Pfingstrosenblätter glitten aus den Sternen und versetzten sie in Trance, in eine stetige Balance mit ihrem Leben und dem Bewusstsein. Wenn Ada später jemanden berichtete, wie die Achtziger waren, jemanden, der dieses Zeitalter nicht erleben durfte, dann meinte sie, es wäre kompliziert gewesen. Man hatte als Mädchen seine Freiheit gehabt, es waren immerhin nicht mehr die Fünfziger, doch Gleichberechtigung gab es nicht. Für niemanden. Man wurde zwangsläufig von den Medien auf einen Podest gestellt, auch wenn man dort wieder runter wollte, man musste dort verweilen. Die besten Musiker lebten nicht mehr, ach hätte Ada nur gewusst wie prunkvoll die Neunziger sein würden, wie dreckig und voller Enthusiasmus. Und wenn die Person, die die Geschichte hören wollte, immer noch nicht zufrieden war, dann erzählte sie was für ein Gefühl die Achtziger und Siebziger waren: Orangenlimo in der Hand, während man Barfuß über die Waschbetonplatten läuft, dabei zu den Pfingstrosen seiner Mutter blickt, und die ganze Welt in einen Gelbstich gehüllt ist. Vielleicht waren das nicht die Achtziger anderer Menschen, doch für Ada war es genauso. Es war ihre Kindheit. Und nun fielen die Rosenblätter wieder auf sie hinab.Sie drehte sich auf die Seite, lag zusammengeklatscht auf der Bettdecke und zog das Leintuch unter der Matratze hervor. Adaine sah Tess als sie neben ihr mit einem Apfelsaft stand, zwei Zöpfe über ihren spitzen Ohren. Ada war sechs gewesen, Tess neun. Sie war umhüllt von weinroten Rosenblättern. Die Braunhaarige streckte die Hand nach der sechs Jahre jüngeren aus und lächelte sie so aufrichtig an, wie noch nie zuvor. Diese blinzelte sie engelsgleich an, doch rannte sie auf die andere Seite und legte sich an Adas Rücken. Letztere beobachtete wie die Blüten verpufften und nichts mehr auf ihr lag. Und alles war still. "Du versinkst in einer Illusion. Du verlierst dich systematisch. Ich bin nicht die, die du denkst, dass ich bin.", lauschte sie Tess' Stimme. Plötzlich klang es so real. Sie setzte sich auf, kurz bevor sie ihre Augen öffnete, lag sie neben ihr. Doch mit Tess verschwanden die letzten Pfingstrosen.
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dies also ist leben
Cerita Pendekdinge entwickeln sich so schnell, und ehe man sich versieht, vergisst man wie es funktionierte sich zu erinnern. eigentlich will ada nur, dass man ihre geschichte erzählt. dass man sie nicht vergisst. doch wer erinnert sich schon noch an einen, wenn...