neun. olivia

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Donnerstag, der vierte Tag der längsten Woche.

"Freut mich, dass du kurzfristig kommen konntest, ich weiß ja, dass das bei dir nicht Gang und Gebe ist.", zwinkerte Anton der Braunhaarigen zu und fiel ihr in die Arme. Er roch nach Rosenparfum am Hals und der Stoff seines roten Pullis kratzte an Adas Wange.
"Warum, bist du ansonsten immer so beschäftigt?", fragte eine ruhige Stimme hinter ihm, weshalb Ada schnell wieder ihre Augen öffnete und sich nahezu aus seiner Umarmung riss. Anton seufzte erschrocken auf und murmelte spaßhaft irgendwas von: "Na toll, jetzt spiel ich wieder nur die zweite Geige." Daraufhin versetzte sie ihm einen Stoß in die Rippen, er jaulte auf und sie widmete sich dem Mädchen. Man sah ihr an, dass sie gedanklich gerade aus der Situation flüchtete, und alle Türen zu werfen wollte.
"Entschuldige bitte meine Unhöflichkeit, Olivia. Ich bin Adaine.", meinte die Braunhaarige schnell, welche dies registrierte und sofort schaltete.
"Ich weiß wer du bist. Ich habe dich ein paar Mal auf den Schulgängen gesehen.", schmunzelte das zierliche Mädchen mit den blaugefärbten Haarspitzen dann unsicher und ließ zu, dass ihre Haare ihr halbes Gesicht verdeckten. Sie hatte volle Wangen und einen breiteren Körperbau, war aber keineswegs "zu" dick. Sie trug blaue Shorts und ein schwarzes T-shirt, welches ihre Oberweite betonte. Sie sah interessant aus, irgendwie. Schüchtern, aber sehr sympathisch. Und vor der zwanghaft gelben Wand in Antons Zimmer, fast schon rebellisch.
"Ein Fan also.", scherzte Ada und ließ ihren knallblauen Rucksack einfach zu Boden gleiten, die Verschlüsse klickten am Laminat.
Die Blauhaarige lief rot an und sagte: "Wenn man eine Stufe unter den ganzen interessanten Menschen ist, hat man viel Zeit ein Fan zu sein."
Ada lachte herzhaft, fühlte sich fast unwohl aufgrund dieser Höflichkeit, und platzierte sich auf Antons Kinderbett.

Das Zimmer teilte er sich mit seinem großen Bruder, und es war alles noch immer so eingerichtet wie vor acht Jahren bei ihrem Einzug. Die sonnengelben, drückenden Wände, behangen mit allen möglichen Bildern, von der Geburt Antons bis hin zu dem Klassenbild der achten Klasse. Ada grinste in sich hinein, als sie daran dachte, wie sie früher zusammen über ihre Mitschüler lästerten und Gesichter auf den Fotos derweil ausgekratzt hatten, bis einer von ihnen vom labilen, vollgeräumten Tisch flog. Das war immer so, am Ende lagen beide am Boden. Sie blickte für eine tausendstel Sekunde hinab auf ihre Füße, erst da bemerkte sie, dass der Teppich, auf denen an die Millionen Haare geklebt hatten und illustrierte Straßen verliefen, nicht mehr da war. Sie sah nun nach oben, die Lampe mit den Marienkäfern hing nicht mehr dort, nachdem Antons Mutter sie in Rage zertrümmert hatte. Sie war gewichen für eine Glühbirne ohne Luster.

Von außen wirkt es so, als würde die Zeit nicht ihre Spuren ziehen, doch insgeheim bröckelt bei jedem der letzte Lebensabschnitt so schnell ab, dass sich nicht einmal eine neue Schicht bilden kann.

Anton nahm seine Freundin an der Hand (er sah unbeholfen aus, doch vollkommen glücklich und das war unfassbar süß) und sie setzten sich gegenüber von ihr, auf Ni's Bett, hin. Sie sahen einander immer wieder an und kicherten wie kleine Schulkinder am Pausenhof. Irgendwie war es aber selbst für Anton abstrus sich selbst einmal so zu erleben.
"Wo kommst du eigentlich her, du hast so eine Art Akzent.", bemerkte Ada und riss die zwei aus erneuten Gekicher heraus. Olivia wurde nervös, vermutlich konnte sie mit Menschen genauso wenig wie sie umgehen.
"Ich bin Schwäbin, komme vom Bodensee.", erklärte sie nun und lief rot an. Die Braunhaarige lächelte: "Bayern" und zog sich umständlich ihre Jeansjacke aus, welche einen ausgeblichenen Fleck Edding, den Anton zu verschulden hatte, beeinhaltete. Olivia nickte.
"Und was macht man jetzt so? Ich meine als Kennenlernen.", fragte Anton dann ratlos und drückte Olivias Hand. Sie lehnte sich gegen seine Schulter.
"Ich weiß nicht.", gab Adaine zu und holte eine Dose Bier aus ihrem Rucksack.
"Auch?", fragte sie abgehackt an Olivia gewandt, welche nickte, mal wieder. Ada begann zu glauben, dass sie das immer tat, nur um höflich zu wirken und nichts sagen zu müssen. So einfach würde sie ihr nicht davon kommen, das war Ada klar.
"Hab noch nie etwas anderes getrunken außer Weißwein, Bier und Sekt."
"Wie niedlich.", grinste Ada und öffnete mit einem Knacken die Dose.
"Du bist ja fast so etwas wie eine Drogenjungfrau.", lachte sie dann und wischte ihre Handfläche, die feucht geworden war, auf ihrem bloßen Schenkel ab. Anton rollte mit den Augen und Olivia sah sie verständnislos an, was ziemlich lustig aussah, weil sie dann umso mehr wie ein Hamster wirkte.
"Musste das sein?", ertönte es von Anton, welcher seinen Kopf leicht gegen die Betonwand schlug. Vermutlich war das nicht so klug, denn die Wände waren sehr dünn und es wäre äußerst ungünstig gewesen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wenn man gerade plante Alkohol zu konsumieren.
"Das war ein Witz. Ha haaa.", meinte Ada dann genervt und der Hamster begann zu lachen, was eher einem Quietschen ähnelte.
"Was zur Hölle war das?!", fragte die Braunhaarige geschockt doch konnte sie sich ebenfalls ein Lachen nicht verkneifen.
"So lacht sie immer.", gab Anton dann Schulter zuckend preis, wobei er Olivias hochroten Kopf anhob und nicht gerade Gentlemanlike wieder fallen ließ.
"Gar nicht wahr!", verteidigte diese sich dann empört und rückte demonstrativ ein paar Bewegungen von ihm weg. Die Decke, die sie auf ihren Schoß liegen gehabt hatten, schlug Falten und fiel zu Boden.
"Oida du mit den schirchen Hoar du blede Blunsn."
"Anton, Stop.", sagte Ada dann schnell.
"Kein Dialekt.", ergänzte Olivia und die zwei Mädchen grinsten einander an.
"Ich kann das."
"Du kannst Reis mit Stäbchen essen, du hast andere Qualitäten.", lächelte Olivia glücklich, als sie an den guten Reis von vorher dachte, und strich über Antons Kopf. Ada fiel zeitgleich auf, dass die beiden das irgendwie ausdünsteten.
"Ist das alles was ich kann?"
"Du kannst Haare gut flechten!", warf Ada ein und Anton begann freudig zu schnippsen. Er bestand darauf der "King del Flisulen" genannt zu werden. Wäre er nicht selber Asiate, könnte man das fast schon rassistisch auffassen.
"Mir sagtest du, du könntest das nicht."
Stille lag in der Luft. Ada trank gespannt weiter und tat so als würde sie Popcorn naschen.
"Das ist besser als Kino, oida!"
"Ada, Stop.", sagten Olivia und Anton synchron wie aus einem Mund und sahen einander erschrocken an.
"Verdammt, seid ihr gruselig.", hauchte die Braunhaarige verstört und vergaß sogar ihr imaginäres Popcorn weiter zu knabbern.

Letztendlich passierte an diesem Abend nicht mehr sonderlich viel; Ada wusste auch noch nicht, dass sie mit ihrer zukünftigen besten Freundin in einem Raum sitzen würde.
Anton und Olivia schliefen Arm in Arm ein, Anton hatte sie in den Schlaf gestreichelt, und es machte ihm nicht einmal etwas aus, wenn sie in sein Ohr schnarchte. Im Gegenteil, er grinste über beide Ohren, während er schwerelos wie ein Papierflieger in seine Papiertraumwelt gleitete.

Dinge entwickeln sich so schnell, und ehe man sich versieht, vergisst man wie es funktionierte sich zu erinnern.

dies also ist lebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt