Kapitel 3: Gemeinsamkeiten

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Seit Cornelius' erster Begegnung mit Whitmores Tochter waren einige Tage vergangen, doch der Winter war noch lange nicht vorbei.
Sein Vater ertappte ihn immer öfter, wie er dasaß und anstatt zu lesen in Richtung des Whitmore-Hauses zum Fenster hinaus starrte, als könne er durch das dichte Schneegestöber auch nur die Andeutung eines Hauses wahrnehmen.

Doch da war nichts als Weiß.

„Wenn du zu viel Zeit hast, sag's mir ruhig. Ich hab' genug Arbeit für dich, Sohnemann." Solche Dinge sagte sein Vater stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Er wusste, dass es Cornelius nichts ausmachte, ihm zur Hand zu gehen. Und heute spürte er ganz deutlich,dass es seinem Sohn sogar eine willkommene Ablenkung war. Seine Worte waren vor allem Ausdruck der Sorge, die ihm Cornelius' neuerdings so abwesendes Verhalten bereitete. Cornelius, der über die Begegnung an der alten Eiche kein Wort verloren hatte, sprang, um seinen Vater nicht noch mehr zu beunruhigen, vom Sims des großen Schaufensters und schnappte sich die nächstbeste Kiste, die sich ihm in den Wegstellte. Sie würde heute sowieso nicht am Laden vorbeikommen. Der Schneesturm war so stark, dass man kaum etwas erkennen konnte. Bei einem derartigen Sturm verließ man nicht die warme Geborgenheit der eigenen vier Wände, wenn sein Leben nicht davon abhing. Da würde nicht einmal der verrückte alte Whitmore jemanden in die Stadt schicken.

So dachte zumindest Cornelius.

Als er sämtliche Kisten geöffnet und die Bücher in ihrem neuen zu Hause gebührend willkommen geheißen hatte, indem er sie an ihre neuen Plätze legte, begab er sich in das kleine Zimmer hinter dem Vorhang,um Post zu ordnen. Rechnung, Rechnung, Bestellung, Post von seiner Tante Beth... Wie immer roch der Umschlag nach ihrem Lieblingsparfüm.Bestellung....

Unvermittelt wurde die Tür des Ladens aufgerissen und fiel mit einem lauten Klick hinter dem vermeintlichen Kunden ins Schloss. Da hatte es wohl jemand eilig, ins Warme zu kommen.

„Verzeihen Sie...", hörte er eine leise Stimme sagen, die er von keinem ihrer Kunden kannte.

„Einen Moment Geduld, bitte. Ich bin gleich für Sie da!", rief Mr. Blackwell aus der Wohnung über dem Laden. Er war hinaufgegangen, um Tee zu machen. Obwohl es im Laden angenehm warm war, ging Blackwell Senior und Junior trotzdem nichts über eine Tasse heißen Schwarztee, um sich bei diesen Außentemperaturen geborgen zu fühlen.Cornelius war noch immer mit den Stapeln an ungeöffneten Rechnungen und Bestellungen beschäftigt, mit denen sein Vater nicht gerade Ordnung hielt. Er war ein sehr warmherziger, aber ebenso chaotischer Mensch.

Mr. Blackwell kam die Treppe herunter, was für Cornelius unter den Stufen unschwer an den ächzenden und quietschenden Holzdielen zuerkennen war. Sie brauchten wirklich einen Teppich auf diesem Ding.Sein Vater unterhielt sich mit der Kundin. Der Klang ihrer Stimme machte Cornelius nun doch neugierig und er spähte durch den leicht geöffneten Vorhang.

Wenn sein Vater überrascht war, dann ließ es sich sehr erfolgreich nicht anmerken. Cornelius dagegen ließ sämtliche Briefe, der er gerade noch in Händen gehalten hatte, geräuschvoll zu Boden fallen.

Da stand sie.

Zum ersten mal mitten im Buchladen.

„Verzeihen Sie, Mr. Blackwell", sagte sie mit einer klaren und sanften Stimme.„Ich komme ohne eine Bestellung zu Ihnen, aber draußen war es so schrecklich kalt. Ich hatte Angst, bei diesem Wetter nach Hause zulaufen."

Sie hielt ihren Kopf gesenkt. Sie hatte eine unglaublich gefühlvolle Stimme, die jede Nuance ihrer Empfindungen zu transportieren schien.Aber irgendetwas an ihrem Gesicht störte Cornelius trotzdem. Auf diese Entfernung würde er allerdings auch nicht herausfinden, was das sein konnte.

„Natürlich.Es ist gut, dass Sie zu uns gekommen sind. Ich habe gerade Tee aufgesetzt. Sie müssen total durchgefroren sein", sagte Mr. Blackwell verständnisvoll. Er war nicht einer jener Ladenbesitzer,die von jedem Kunden erwarteten, etwas zu kaufen, wenn sie schon einmal da waren. Er lud die Leute sogar ein, sich ein Buch zu nehmen und darin zu lesen, wann immer sie wollten. So kam er mit ihnen ins Gespräch und die meisten waren ohnehin gute Kunden.

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