Kapitel 6: Hallo.

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Auch die folgenden Tage verliefen nicht anders als jeder Winter in Kincraig. Es schneite unaufhörlich. Das Gestöber war zu dicht, um auch nur die Häuser auf der anderen Straßenseite richtig erkennen zu können. Niemand verließ seine warme Wohnung, daher kam auch niemand in den Buchladen. Beth hatte am Nachmittag angerufen und darauf bestanden, das die Familienfeier verschoben werden musste. Man hole sich da draußen ja den Tod, schimpfte sie. Und so waren die Blackwells dazu verdammt, den Laden so gut es ging auf Vordermann zubringen. Bald mussten sie jedoch feststellen, dass alles erledigt war. Wer zuverlässig Arbeit machte, war selbstverständlich der Kronleuchter.

Hin und wieder ging Cornelius hinaus und versuchte, den Massen an Schnee vor der Tür und auf dem Gehweg um das Haus herum Herr zu werden. Aktionen, die das Wetter jedes mal mit einer neuen Ladung Schnee quittierte. Cornelius war meist sogar dankbar über die regelmäßige Bewegung, die ihm dies verschaffte.
Immer öfter saß er im Laden und verschlang jedes Buch, das ihm zwischen die Finger kam. Es fiel ihm jedoch zunehmend schwer, sich auf die Geschichten zu konzentrieren, die er las. Jetzt, da er Zeit hatte um nachzudenken, kamen ihm immer mehr Details seiner letzten Begegnung mit Ophelia in den Sinn. Lag es an dem, was Ben gesagt hatte? Er verstand sich in den letzten Tagen selbst nicht mehr.

Dann fiel ihm das Buch ins Auge. Die Abenteuer des Pinnocchio von Carlo Collodi. Er schlug es auf und ließ seine Finger über Mussinos Illustrationen gleiten. Das war also ihre Lieblingsgeschichte. Er hatte das Buch zum letzten mal vor Jahren gelesen und erinnerte sich nur noch bruchstückhaft daran. An den einsamen Gepetto und an die Marionette Pinnocchio, die er schnitzte und die daraufhin zum Leben erwachte und sein Sohn wurde. Am Ende wurde Pinnocchio von der dankbaren Elfe im Traum geküsst und erwachte am nächsten Tag als richtiger, menschlicher Junge. Was für eine außergewöhnliche Idee für eine Kindergeschichte.

Cornelius erschrak selbst über den Knall, als er zwei Stunden später das Buch zuschlug. Ehe er es sich versehen hatte, hatte er es tatsächlich bis zum Ende gelesen.

In letzter Zeit stimmt wirklich etwas nicht mit mir, dachte er und sah hinaus. Und stellte erstaunt fest, dass der Schnee zum ersten mal seit Tagen aufgehört hatte, zu fallen. Die Wolkendecke am Himmel war noch immer geschlossen, schien aber fast fadenscheinig genug zu sein,um einige Sonnenstrahlen hindurchzulassen.

Ein Spaziergang würde mir guttun, befand er. Sicher würde ihn das auf andere Gedanken bringen.

Es dämmerte zwar bereits, doch die Tatsache, dass in einer so kleinen Stadt wie Kincraig jeder jeden kannte und ihre geographische Lage im Zusammenspiel mit der Jahreszeit eine unangenehme Begegnung mit einem Fremden schier unmöglich machte, ließ seinen Vater keinen Einspruch gegen Cornelius Bitte erheben.
„Wenn du aber in zwei Stunden nicht wieder da bist, werde ich dich suchen gehen, klar?" Mr. Blackwell verabschiedete seinen Sohn an der Türschwelle.
„Zwei Stunden sind mehr als genug, um mir kurz die Beine zu vertreten!", lachte Cornelius und lief los. Es war ein gutes Gefühl, wieder im Freien zu sein. Er mochte die nach Papier und Wachs duftende Luft im Laden zwar sehr, aber es war ihm schließlich doch zu eng geworden. Die eiskalte Abendluft stach ihm in die Nase,aber er genoss die Bewegungsfreiheit. Den Schal bis über die Nase hinaufgezogen lief er eine Weile ziellos umher. Die Sonne hinter den Wolken war wohl schon fast vollständig untergegangen und im spärlich Licht schimmerte der Schnee tiefblau. Die wenigen Laternen, die seine Umgebung beleuchteten, ließ Cornelius bald hinter sich. Seinen Gedanken nachhängend achtete er nicht auf seine Schritte und mit einem mal fand er sich am Rande der Senke wieder, in einiger Entfernung von dem Anwesen, wo die Whitmores lebten. Es brannte kein Licht in den Fenstern und seine Fantasie beschwor Bilder von unterirdischen Laboratorien herauf, in denen der alte Whitmore den Abend verbrachte, sodass für Licht in den oberen Stockwerken kein Bedarf war.

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