Kapitel 15: Benedictus ex machina

38 3 0
                                    

Nein.

Nein, er verstand es nicht.

So oft er darüber nachdachte, er wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. Zuerst hatte er gedacht, er hätte sie nicht küssen dürfen. Doch dann sagte sie, dass sie ihn...! Aber das ergab doch keinen Sinn.

Und während er so nachdachte, verknüpfte die Zeit Sekunden zu Minuten.

Aber wenn sie ihn liebte, warum war sie dann weggelaufen? Was genau war ihr verboten? Und von wem?

Minuten verschmolzen zu Stunden.

Und überhaupt, hatte er nicht Anlass zur Freude, wenn sie seine Gefühle doch erwiderte?

Stunden verbrüderten sich zu Tagen.

Er wünschte sich Ben zurück, der konnte sich sicher einen Reim auf all das machen. Oder zumindest mit ihm gemeinsam ratlos sein. Er wünschte sich zurück an den Tag, an dem dieses Mädchen noch ein absolutes Rätsel für ihn gewesen war. Sein Leben war damals so viel einfacher gewesen, dachte er in einem Moment und im nächsten hasste er sich dafür. Nur, damit es nicht mehr weh tat? Was für ein Feigling er doch war. Er traute sich nicht einmal, dorthin zu gehen.


„Naaa, vermisst du mich so sehr?" Wenigstens ein paar Dinge änderten sich nie.
„Das trifft es ganz gut", seufzte Cornelius in den Telefonhörer.
„Ohje, lass hören", forderte Bens Stimme ihn auf, die sich schlagartig mit Besorgnis färbte. „Ist was passiert?"

„Sie liebt mich."

„Hä?"

„Nicht 'Hä?'. Sie hat gesagt, dass sie...".

„Ja, ja. Das hab ich verstanden. Und warum klingst du dann so geknickt?"

Ben hörte ohne jedes weitere Wort Cornelius' Schilderungen bis zum Ende zu.
„Vielleicht hättest du ihr gleich nachlaufen sollen",schlussfolgerte er etwas später. „Und seitdem hast du sie nicht mehr gesehen?"
„Nein, sie ist wie vom Erdboden verschluckt." Cornelius umfasste den alten Telefonhörer etwas fester und horchte kurz, um zu überprüfen, wo sein Vater sich gerade aufhielt.
„Und du denkst, dass es etwas mit einem Verbot ihres Vaters zu tun hat?"

„Sie hat sonst keine Familie außer ihm."

„Hm. Nach allem, was ich über ihn gehört hab', würde es mich auch nicht mehr überraschen, wenn er sie mit jemandem verlobt hätte oder so etwas", sagte Ben nüchtern. Cornelius' Herz versetzten diese Worte einen Stich wie von einer stumpfen Nadel. Er seufzte.
„Lass' den Kopf nicht hängen. Vielleicht ist die Sache auch viel einfacher, als wir denken. Du musst auf jeden Fall nochmal mit ihr reden."
„Und wie?" Er konnte schlecht einfach an ihre Tür klopfen. Wer wusste schon, wer oder was sie öffnen würde.

„Du liest doch gern", sagte Ben und man konnte das in sein Gesicht zurückgekehrte Grinsen deutlich hören.

„Und?"

„Nun, dann ist jetzt die Zeit gekommen, da du mal selbst etwas zu Papier bringen musst."

Ein Brief. Natürlich! Einen Briefkasten hatte sie immerhin. Und soweit er wusste, kümmerte sie sich um die Post.

„Danke, Ben!"
„Keine Ur --", hörte Cornelius noch, bevor er den Hörer unsanft auf das Telefon knallte.

Einen Stift fand er sofort hinter der Ladentheke, doch wo war nur dieses dumme Briefpapier?! Den Namen einer gesuchten Sache beim Suchen laut auszusprechen half ja bekanntlich dabei, sie wiederzufinden, doch in diesem Fall zeigte sich ein anderer Effekt.

„Suchst du das?" Eine Hand mit einem Bündel verschiedener Umschläge und Papierbögen schob sich durch den Spalt im Vorhang, der die kleine Kammer vom Laden abtrennte. Ein peinlich berührter Mr. Blackwell folgte ihr einen Moment später hinaus in das spärliche Licht, das an diesem trüben, eiskalten Nachmittag in den Laden fiel. Cornelius' Gesicht wechselte von einem Besorgnis erregenden Weiß zu einem Mitleid heischenden Rot.

„Seit wann bist du denn hier?!"


„Denkst du nicht, dass es sich vielmehr um etwas handelt, das sie für sich selbst ausgeschlossen hat?"
„Was... meinst du?" Cornelius war noch immer knallrot und seine Finger wanderten unruhig jeden Millimeter seiner Tasse ab, die ihm Mr. Blackwell aufgezwungen hatte. Wenn er schon nichts essen konnte, sollte er wenigstens genügend trinken, hatte er befohlen. Er hatte eigentlich von Anfang an nicht mit seinem Vater darüber reden wollen.
„Du kennst sie doch schon eine ganze Weile", sagte dieser gerade freundlich. Worauf wollte er hinaus? Cornelius sah auf und nickte langsam.

„Hattest du jemals das Gefühl, sie sei mit sich selbst im Reinen?"

Cornelius erschrak regelrecht über diese Erkenntnis. War es das gewesen, was ihn immer gestört hatte?

„Auf mich hat sie nicht den Eindruck gemacht, als habe sie sich selbst akzeptiert", erklärte Mr. Blackwell weiter, als sein Sohn in nachdenklicher Stille vor sich auf das Holz des Esszimmertisches starrte. Er hatte Recht. Sie reagierte nicht auf Komplimente. Sie war stets unsicher, wenn es um sie selbst ging. Sie hatte ihm gesagt, er dürfe sich nicht für sie in Gefahr bringen. Sie selbst war ihr nie wichtig gewesen.
„Du denkst, dass sie glaubt, keine Freunde verdient zu haben?"
„Ich denke, dass sie glaubt, nicht glücklich sein zu dürfen",sagte Mr. Blackwell bestimmt und legte seine Hand auf Cornelius'Unterarm. „Sie glaubt vor allem, sie hat dich nicht verdient",fügte er hinzu und sah seinem Sohn direkt in die Augen, der nur langsam reagierte.

„Papa...", murmelte er unsicher, hielt seinem Blick aber stand.

„Was? Du denkst, ich hätte was dagegen gehabt?"

„Ich...". Cornelius wusste, dass sein Vater niemals schnell über andere urteilte und Ophelia nicht einfach nur als die Tochter des Doktor sah. Es überraschte ihn trotzdem, dass er ihn so offen unterstützte.
„Aber es geht ja auch gar nicht um mich", sprach sein Vater ruhig weiter und seine Hand schloss sich etwas mehr um Cornelius' Unterarm, als wolle er ihn im Hier und Jetzt halten. „Du magst sie sehr."
„Ja...". An diesem Punkt konnte unmöglich noch mehr Blut in seinen Kopf schießen, ohne dass es gesundheitlich bedenklich wurde.

„Du hast weiß Gott ein bisschen Glück verdient, Cornelius. Und sie auch. Du musst sie nur noch davon überzeugen, das auch zu glauben."

NahtlosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt