Kapitel 8: Alter Schmerz

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Die junge Miss Ailie Holdsworth stand vor dem Haus und wartete auf das Erscheinen ihrer Verabredung, die sich wieder einmal verspätete.Sie hasste Verspätungen, doch für ihn würde sie eine Ausnahme machen. Sie hatte ihre schönsten und wärmsten Wintersachen angezogen, die ihr Schutz vor der klirrenden Kälte boten. Es war ein kristallklarer Wintermorgen im verschlafenen Kincraig, über das sie ihren Blick schweifen ließ, während sie genüsslich und elegant einen Zug von ihrer Zigarette nahm, wie Damen von Welt das eben so machten. Mit kühlem Blick blies sie den Rauch in die Luft, der in weißen Schwaden aus ihrem Mund quoll und sich in die Luft erhob. Wo steckten diese Kerle schon wieder?

„Ailie, was machst du denn da draußen? Wir können genauso gut im Haus warten. Kalt wird uns noch früh genug", rief ein etwas mürrischer, da unausgeschlafener Ben ihr zu, als er den Kopf zur Tür hinausstreckte und fröstelte.

„Schau mal, Ben! Ich kann meinen Atem sehen", rief sie begeistert, als sie sich ihm zuwandte. Ihre schwarzen Zöpfe wirbelten umher und zerschnitten das Dampfwölkchen, das sie gerade ausgeatmet hatte. „Wenn ich so mache,", erklärte sie und hielt ihre rechte Hand hoch, von der sie den Zeige- und Mittelfinger abspreizte, als klemme sie etwas zwischen ihnen ein, „dann sieht es so aus, als ob ich rauche!", freute sie sich.

„Du weißt, dass Rauchen ungesund ist, Schwesterchen", sagte Ben mit einer freundlichen Strenge im Gesicht. „Mama würde weinen!"

Ailie erstarrte und sah ihren Bruder an.

„Komm schon rein. Cornelius findet uns auch, wenn wir drinnen warten!", sagte dieser und verschwand schnell wieder in Richtung des Kamins, den er kurz zuvor angefeuert hatte. Als er außer Sichtweite war, sah Ailie auf die zwei Finger ihrer Hand, die die imaginäre Zigarette noch immer einklemmten. Sie machte eine Bewegung, als werfe sie sie in den Schnee, hob ihr rechtes Bein und begrub sie unter ihrer Schuhsohle, die dank des gefährlich weiten Ausfallschrittes ihr Ziel mit tödlicher Präzision und einem dumpfen Knall traf.

„Was machst du denn da, Ailie?", fragte eine allzu bekannte Stimme direkt hinter ihr. Erschrocken löste sie sich aus ihrer Pose und wandte sich um. Es war Cornelius, der belustigt zu ihr hinabschaute. Er trug einen langen, dunkelgrünen Wollmantel mit Revers,den er nicht zugeknöpft hatte. Um sich vor der beißenden Kälte zu schützen, hatte er geschätzte vier Lagen an Oberteilen an, die in einen dicken, schwarzen Schal übergingen, den er sich mehrfach umgewickelt hatte. Aus den Ärmeln seines Mantels quoll ein schwarzer Strickpullover und seine Handschuhe hingen griffbereit zur Hälfte aus seiner Manteltasche. „Bereit?", fragte er lachend, als sich Ailie wortlos an ihn klammerte. Sie war einfach zu hingerissen.
„Wo bleibt denn Ben?"

„Schon da!", kam es von der anderen Seite der leicht geöffneten Haustür. „Hilf mir mal eben mit dem Schlitten!"

Ben reichte ihm den alten Holzschlitten seiner Mutter, den sie im Keller des Hauses aufbewahrten. Er war ein wenig angestaubt, daher rieb Cornelius ihn schnell mit einer Handvoll Schnee ab. „Bist du sicher, dass die Kufen in Ordnung sind? Habt ihr Wachs da?", fragte Cornelius, der den Schlitten von unten begutachtete.
„Hast recht, warte kurz", erwiderte Ben und lief noch einmal polternd die Kellertreppe hinunter.
„Toll, Corni! Du denkst immer an alles", bewunderte ihn Ailie unterdessen.

„Langjährige Erfahrung", grinste Cornelius verschmitzt.

Nachdem Ben mit dem angewärmten Wachs zurückgekommen war,präparierten sie die Kufen und gingen los. Ailie hatte es sich auf dem Schlitten gemütlich gemacht und wurde abwechselnd von Ben und Cornelius gezogen. Es gab so gut wie keinen Fleck, der nicht von einer Schneeschicht von mindestens zehn Zentimetern bedeckt war,daher fiel es ihnen leicht. Ailie sah den Spuren nach, die sie im Schnee hinterließen und wenn die Fährte eines Tieres an ihr vorbeizog, das nachts dort entlang gestreift war, malte sie sich die wildesten Geschichten aus. Cornelius konnte sie beruhigen, da es sich hauptsächlich um Eichhörnchen, Hasen und einige wenige Hauskatzen handelte. Als sie ein kleines, kahles Wäldchen durchquerten, warfen Raben Brocken von Schnee herab und krächzten ihre Freude unverhohlen hinaus, als einer davon Ben am Kopf traf und in seinen Nacken rutschte.

„Mistviecher!", schimpfte Ben.

„Provozier' sie nicht, das macht es noch schlimmer!", warnte Cornelius, bevor Ben seinen Schneeball zu Ende formen konnte, um zurückzuschlagen. Er ließ ihn widerwillig fallen.

Stattdessen beeilten sie sich, das Wäldchen wieder zu verlassen und fanden sich schnell an einem Hang wieder, der sich sanft abfallend in ein Tal ergoss und perfekte Voraussetzungen für eine ausgedehnte Abfahrt bot. Der anschließende Aufstieg würde ebenfalls nicht zu anstrengend werden.

Nachdem sie sich über zwei Stunden im Schnee verausgabt hatten,fühlten sich ihre Gliedmaßen taub an und Ailie drohte, im Stehen einzuschlafen, also traten sie den Rückweg an. Das Feuer im Kamin der Holdsworths knisterte einladend und sie machten es sich zu dritt mit jeweils einer Decke und einer Tasse Kakao vor dem Feuer gemütlich, um wieder aufzutauen. So ließ sich der Winter aushalten. Ailie hatte tapfer durchgehalten, doch nun wurde sie dank der kuscheligen Decke und des warmen Kakaos in ihrem Magen endgültig schläfrig. Sie rollte sich zwischen den beiden ein wie eine Katze und Ben konnte sich gerade noch ihre Tasse schnappen, bevor der letzte Schluck Kakao auf den Teppich tropfen konnte. Sie schlief bereits nach kurzer Zeit tief und fest.

„Was neues?"

Cornelius hatte das kommen sehen. Überaus wissbegieriges Grün blitzte ihn von der Seite an.

„Sie will ab jetzt öfter in den Laden kommen."

„Uuuund?"

„Nichts 'und', mit mehr kann ich nicht dienen", sagte Cornelius und klang etwas müde. Ben setzte ein tadelndes Gesicht auf.
„Ich hab dir doch gesagt, dass das so nichts wird. Im Laden sind ständig andere Leute um euch herum, vor allem Onkel Theodore."
„Ich kann sie ja schlecht jedes mal raus in die Kälte schleifen,oder?"
„Auch wieder wahr", sagte Ben und schnippste einen Fussel aus dem Teppich ins Feuer, das ihn sofort erbarmungslos in Rauch verwandelte.

„Was ist eigentlich mit ihrem Vater? Der lebt doch noch, oder?"

„Denke schon. Er schließt sich wohl täglich von morgens bis abends in sein Labor ein und kümmert sich nicht um seine Tochter",sagte Cornelius und streckte die Arme aus, um seine Hände näher ans Feuer halten zu können. Sein Blick fiel auf seine linke Hand.

„Manchmal fällt mir plötzlich wieder ein, dass sie gar nicht echt ist", sagte er nach einer kurzen Pause und zog seinen linken Arm wieder zu sich heran. Beide starrten auf die Hand, die sich spielend leicht bewegen ließ, als sei sie echt.

„Er macht sie jedes mal ein bisschen realistischer", murmelte er und bewegte seine Finger, während er seine Hand leicht drehte.

„Wie funktioniert das eigentlich, wenn dein Vater so dagegen ist,dass du in die Nähe seines Hauses gehst?" Ben machte ein ernstes Gesicht. Es war ihm sichtlich nicht geheuer.

„Manchmal, wenn Papa Bücher zu ihm bringt, liegt ein Paket für ihn vor der Tür." Ben schauderte. „Das Grundgerüst bleibt immer das gleiche, ich muss nur ... die Haut austauschen." Er strich mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über eine haarfeine Linie, die sich einige Zentimeter hinter seinem linken Handgelenk über seine Haut zog. Wenn man nicht darauf achtete, war sie kaum erkennbar. Im Sommer trug Cornelius meistens eine Armbanduhr darüber, im Winter erübrigten lange Ärmel jeden weiteren Aufwand. „Er hat einen Abdruck meiner Hand von dem Tag, als sie mich zu ihm gebracht haben und einen weiteren von Papa. Anscheinend bestimmt er so ihre Größe und wie sie auszusehen hat. Aber frag' mich nicht, was das für ein Material ist. Es fühlt sich an wie Haut und nimmt sogar meine Körpertemperatur an."

„Wahnsinn", staunte Ben und war froh, dass seine kleine Schwester einen wirklich tiefen Schlaf hatte.

Was würde aus ihren Heiratsplänen mit Cornelius werden, wenn sie so eine Schauergeschichte über ihn hören musste?

„Hm", machte Cornelius. „Ich lebe noch, das ist die Hauptsache." Er zog seinen Ärmel wieder über sein Handgelenk.„Und wenn du die Wahl hast, ob du eine Hand willst oder nicht, dann denkst du nicht zweimal nach."
„Wohl wahr", murmelte Ben und schauderte bei dem Gedanken, was Cornelius für Schmerzen ertragen haben musste, als er nicht viel älter gewesen war als die kleine Ailie in diesem Moment, die immer noch selig zwischen ihnen schlummerte.

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