Kapitel 18: Erkaltende Asche

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Cornelius öffnete die Augen und blinzelte in den ungewohnt hellen Raum. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass dies nicht sein eigenes Zimmer mit dem einzelnen, winzigen Fenster war. Der Duft von Ophelias Haaren hatte ihn in den Schlaf begleitet. Lavendel machte wirklich schläfrig. Selten hatte er sich so erholt gefühlt, obwohl sein Rücken von der krummen Haltung etwas schmerzte. Er streckte sich genüsslich und stellte dabei fest, dass das Gewicht von seinem Oberkörper verschwunden war. War sie nach Hause gegangen? Wer hatte ihm die Decke umgelegt? Mühsam erhob er sich aus den Polstern.

Sie jetzt in der Küche vorzufinden, wie sie gerade Kaffee für alle machte, war wohl zu viel verlangt. Seine eigenen Gedanken brachten ihn zum Lachen. Er vermisste sie bereits wieder.

Er bemerkte nicht sofort, was in seinem Zimmer auf ihn wartete.

Er machte Kaffee, weil er plötzlich Lust darauf bekommen hatte.Normalerweise war Schwarztee immer seine erste Wahl. Auch sein Magen knurrte ungewöhnlich laut und so machte er sich eine besonders große Portion Speck, Eier und Bohnen. Sein Vater kam herein, mehr schlafend als wach, angelockt von dem appetitlichen Duft. Sie aßen gemeinsam,sprachen aber nicht viel. Sein Vater war kein Morgenmensch und vergrub sein Gesicht lieber zuerst in der Zeitung, bevor er die Kraft für ein Gespräch aufbringen konnte. Niedriger Blutdruck.

„Hast du schon wieder in deinen Klamotten geschlafen?" Er nuschelte seine Frage über die vibrierende Oberfläche seines Kaffees hinweg.

„Sieht so aus", grinste Cornelius. Ihm war bewusst, dass er wie ein verliebter Idiot aussah mit seinen zerzausten Haaren und den knittrigen Kleidern am Leib, aber das war ihm herzlich egal.

Sein Vater hob zuerst eine Braue, dann die Zeitung vor sein Gesicht und widmete sich wieder den Themen des Tages. Frisch Verliebte.

Cornelius zog sich um. Das, was er durch das kleine Fenster in seiner Wand vom Himmel erkennen konnte, sah nicht besonders einladend aus.Grau in noch mehr Grau. Ein dicker Pullover war sicher angebracht. Erzog sich im Hinausgehen den Pullover über den Kopf und bemerkte gerade noch im Augenwinkel etwas auf seinem Schreibtisch, das da nicht sein sollte.

Ein Brief?

Er nahm den Umschlag in die Hand. Es war elegantes Blütenpapier,dessen Fasern leicht silbrig schimmerten. Der Brief war nicht adressiert. Hatte Ophelia...?

Er riss den Brief ungestüm auf, um in seinem Inneren zwei Bögen Papier zu finden, ebenfalls von guter Qualität und sehr stark. Auf solchen Stoff schrieb man keine Beiläufigkeiten nieder. Eine zierliche, feine Handschrift mit großzügigen, aber engen Schwüngen floss über die Fasern. Cornelius' Augen weiteten sich mit jeder Zeile. Mit jedem Wort schwand die Neugier und wuchs das Entsetzen in seinem Gesicht.


Mein geliebter Cornelius,


Du wunderst dich sicher, wieso ich dir diesen Brief schreibe.Nun, zunächst einmal wollte ich dir schriftlich geben, wie sehr ich dich liebe! Denn ich weiß nicht, wie oft ich es dir noch sagen kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich in diesem Moment, da du dies liest, noch in deiner Nähe bin. Ich kann und will Vater nicht länger belügen, wenn er mich fragt, wo ich meine Tage verbringe.Er soll von dir erfahren. Er soll wissen, dass du mein Geheimnis kennst und mich trotzdem aufrichtig liebst. Die Strafe ist mir egal.Vielleicht ist sie mir sogar willkommen.

Mein Körper hat begonnen, sich aufzulösen, Cornelius. Die Seele, die er in diesen Körper gesperrt hat, kämpft endlich gegen ihr Gefängnis an. Der Wunsch, zu leben, an deiner Seite wirklich zu leben, ist zu übermächtig geworden für diese künstliche Hülle. Sie zerbricht in diesem Moment, da es so still um mich herum ist, mit einem leisen, fortwährenden Sirren und Grollen wie das Eis auf dem See an jenem Tag. Dich verlassen zu müssen ist ein Albtraum. Aber noch schlimmer ist für mich der Gedanke, mich nie zu verändern und dir zusehen zu müssen, wie du allein alt wirst. Ich hätte es nicht ertragen und du hättest so nicht leben können. Er nimmt mich mit sich fort und versucht alles, um dieses gescheiterte Experiment noch zu retten. Aber ich weiß, dass es sinnlos ist: Es wird kein zweites mal gelingen. Dafür bete ich zu Gott, der ihm und mir hoffentlich vergeben wird, was ich bin. Und ich bitte nur darum, dich wiedersehen zu dürfen. Was für eine Gestalt diese Seele auch annehmen wird. Wenn ich nur bei dir sein kann, ist mir jede Formrecht. Und darum warte nicht auf mich, mein Liebster. Lebe dein Leben und wisse, dass ich bei dir bin, irgendwo. Vielleicht bin ich im Wind, oder im Regen. Vielleicht bin ich der kleine Vogel, der jeden Morgen viel zu laut vor deinem Fenster singt. Und vielleicht darf ich dir wieder begegnen, als richtiger Mensch, der mit dir weinen und lachen, leben und alt werden darf. Das wäre das größte Geschenk.

Ich kenne dich, Cornelius. Und ich kenne meinen Vater. Darum bitte ich dich, auch wenn ich weiß, dass du längst Hals über Kopf losgerannt bist: Geh nicht dorthin. Meide diesen Ort, wo du nichts mehr vorfinden wirst als Trauer. Sieh ihn nicht als einen Ort des Gedenkens, denn ich lebe.

Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit mit dir verbringen konnte. Dass wir nicht mehr gemeinsam lesen und lachen können. Es tut mir leid, dass dies unser letzter Kuss war und ich nie wieder in deinen Armen deinem Herzen lauschen kann.
Danke, dass du einen Menschen aus mir gemacht hast. Ich erinnere mich daran, für immer.

Ich liebe dich.

Ophelia


Cornelius kniete im Schnee vor der klaffenden Leere, wo ihr Haus hätte stehen sollen. Noch nie hatte er ein so intensives Schwarz gesehen. Es brannte sich ein, wie das Feuer und die Glut, die es geboren hatten. Schwarz. Überall knackte, krachte und tanzte das Schwarz im Wind. Er trug noch nicht einmal seinen Mantel. Er war hinausgestürmt, den Brief in seinen Händen, in deren festem Griff er auch jetzt noch gefangen war und hilflos zappelte. Kalte Asche legte sich auf sein Gesicht und brannte schlimmer, als die kältesten Schneeflocken es je vermocht hatten. Nichts war mehr übrig von dem alten Anwesen, das noch am Tag zuvor dort gestanden haben musste. Nur ein paar wenige, besonders stolze Balken standen noch aufrecht,pechschwarz und zerfressen von dem Flammen, die hier gewütet hatten. Wieso hatte es niemand bemerkt? Den Rauch, das flackernde Licht zwischen den Bäumen? Wieso war niemand gekommen, um zu helfen? Erfühlte sich verraten. Einsam. Angewidert. Leer. Er konnte noch nicht einmal schreien, oder weinen. Er saß einfach nur da. Auf den Knien, denn seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen. Sein Herz war viel zu schwer.

War ihm denn wirklich nichts geblieben, außer diesem Stück Papier,das er umklammerte? Er wollte es in das Werfen, was von dem Feuer noch übrig war, das zwischen ihm und Ophelia stand. Das konnte nicht wahr sein. Seine Ophelia, von der er noch vor wenigen Augenblicken geglaubt hatte, dass er sie nur für eine kurze Weile vermissen musste? War aus zwei unerträglichen Stunden nun die Ewigkeit geworden? Das durfte nicht sein. Es war viel zu grausam, um auch nur einen einzigen Gedanken daran zu tolerieren. Er holte aus, um den Brief in der letzten, sterbenden Glut zu verbrennen und mit ihm die Lüge einer Realität, die es nicht geben durfte.

Doch er hielt inne.

Er konnte es nicht.

Er hatte sich bereits eingestanden, dass es das letzte und wertvollste war, das ihm von ihr geblieben war. Sein Körper machte ihm bewusst, was sein Geist nicht akzeptieren konnte.

Sie war fort.

Das liebste, was er auf der Welt hatte.

Der wichtigste Teil seiner selbst war ihm genommen worden, als habe man ihm das Herz aus der Brust gerissen. Und er hatte noch nicht einmal mehr die Kraft, den Schmerz zu fühlen.

Sein Körper und sein Geist waren taub.

Da war nichts mehr.


 Nur unendlich tiefes, unerbittliches Schwarz, dass sich in die Löcher ergoss, die in seinem Herzen klafften, wo seine geliebte Ophelia hätte sein sollen.  

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