Kapitel 12: Musik, bitte.

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Da war es wieder. Dieses Flattern. Dieses mulmige, zittrige Gefühl in den Beinen, als bereite sich der Körper gerade auf die Flucht vor. Und er hatte geglaubt, er hätte das überwunden.

Ablenkung war allerdings in Sicht, denn der Weg zum kleinen Bahnhof der Stadt war nicht so gewissenhaft vom Schnee befreit worden, wie sie es erwartet hatten und Ophelia hatte eindeutig das falsche Schuhwerk gewählt. Sie bewegte sich normalerweise sehr leichtfüßig und anmutig und ihr Kampf um die Wahrung dieses Scheins erheiterte ihn ungemein. Manchmal versanken ihre Absätze rettungslos im Schnee,dann rutschte sie auf einer kleinen Eisfläche ab, fing sich wieder und verzog ihr Gesicht dabei nur für eine Sekunde zu einer Schnute, als sei sie dem Schnee böse für jede seiner kleinen Stolperfallen.

„Das empfohlene Schuhwerk für diese Jahreszeit sieht leider vollkommen anders aus, nicht wahr." Er konnte nicht umhin, sie ein wenig aufzuziehen. Das half ihm wenigstens, das eigene Gleichgewicht besser zu wahren.

„Du kannst unmöglich von mir verlangen, zu diesem Kleid Stiefel zutragen", beschwerte sie sich, die Arme zu beiden Seiten elegant,aber bestimmt abgespreizt, in ständiger Erwartung einer weiteren Gefahrenzone. Sie klang, als konzentriere sie sich gerade auf nichts anderes, als zu gehen.

„Wah!"

Und da war es auch schon. Ein besonders kaltblütiges Stück Eis brachte sie zu Fall. Dieses hatte allerdings nicht mit den unglaublichen Reflexen eines verliebten Buchhändlers gerechnet. Cornelius war sofort zur Stelle und schaffte es gerade noch, ihren Rücken an der Taille zu stützen, sodass sie im nächsten Moment zwar unbequem, aber gerade nochmal gerettet in seinen Armen hing. Um den Sturz abzufedern war Cornelius schnell in die Hocke gegangen und hielt sie in seinen Armen, als wiege sie nicht mehr als eine Katze. Sie blinzelte. Hätte sie nicht unsanft landen müssen?

„Cornelius?" Ein Paar rabenschwarzer Augen funkelte sie verschmitzt an.

„Ja?"

„Das ist ja unglaublich, wie...?"

„Ich muss dich öfter mal retten, schon vergessen?" Er lächelte und wischte ihr mit der freien Hand etwas Schnee von der Wange, der sich bei ihrem Sturz dorthin verirrt hatte.

„Stimmt...Vielen Dank", sagte sie leise. „Normalerweise bin ich gar nicht so ungeschickt, wei--ahh?!" Cornelius war gerade aufgestanden. Einfach so. Mit ihr in seinen Armen. Er grinste unverhohlen.

„Wie? Aber du...Du liest doch immerzu nur?!" Ihre Überraschung ließ etwas zu ehrliche Worte aus ihrem Mund purzeln. Cornelius verzog den Mund. „Wenn ich gerade nicht lese, trage ich tonnenweise Bücher durch die Gegend. Das gibt Kraft", freute er sich und stellte sich kurz auf seine Zehenspitzen, wie zum Beweis. Ophelia, die Angst bekam, erneut zu fallen, schlang ihre Arme um seinen Hals, sodass ihr Schal ihm die Sicht versperrte. Er lachte und nach einer kurzen Schrecksekunde schloss sie sich ihm an.

„Am besten, ich trage dich das letzte Stück, sonst verpassen wir am Ende noch unseren Zug."

„I-i-i-ist g-gut", stammelte eine ganz ohne Zweifel plötzlich sehr nervöse Ophelia. Das Glücksgefühl in seinem Bauch ließ ihn ihr Gewicht auf seinen Armen noch weniger spüren. Sie ließ sich tatsächlich ohne Gegenwehr von ihm tragen.

Was tat man in einem solchen Moment? Noch nie zuvor war sie von jemandem getragen worden. Zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Und dann musste ausgerechnet er es sein.... Ophelia besah sich Cornelius'Gesicht genauer, der sie bei jedem seiner Schritte in seinen Armen wiegte. Es war nicht mehr weit zum Bahnhof und obwohl aus seinem Mund langsam immer größere Dampfwolken in sich verkürzenden Abständen kamen, wünschte sie sich, dass es so bald noch nicht zu Ende sein möge. Er sah geradeaus, da die Sicht langsam schlechter wurde. Die Sonne verschwand zu dieser Jahreszeit schnell hinter den Hügeln der Gegend. Seine Augen wirkten in diesem Licht pechschwarz, doch passierten sie eine der Straßenlaternen, die jetzt eine nach der anderen aufleuchteten, flackerte ein warmes Braun in ihnen auf wie bei einem Edelstein. Katzenaugen. So hießen sie doch, oder? Man konnte bereits erkennen, dass seine Gesichtszüge markanter werden würden. Seine Wangenknochen und sein Kinn wirkten von Nahem betrachtet so elegant auf sie. Das dürfte man zu einem Mann bestimmt nicht sagen, dachte sie und schwieg lieber. Stattdessen kuschelte sie sich noch etwas mehr in seine Umarmung. Was Cornelius natürlich nicht entging. Ihre Hand glitt still über seine Schulter.

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