Epilog

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Geliebte Ophelia,

Fast fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich dich zum letzten mal in meinen Armen gehalten habe. Ich habe dich so schrecklich vermisst.

Nachdem ich die Schule beendet hatte, ging ich fort, um in London Verlagswesen zu studieren. Wie du dir vorstellen kannst, war Ben immer an meiner Seite.

Wie es um uns Menschen eben bestellt ist: Der Schmerz ließ nach,bis er verschwunden war. Und ebenso wird auch die größte Liebe einmal Vergangenheit und verblasst, bis sie nur noch eine Erinnerung ist. Deiner Bitte folgend habe ich mein Leben gelebt und mich wieder verliebt. Du wirst sicher lachen, aber ich war einigermaßen beliebt bei den Damen. Einige Freundinnen kamen und gingen, doch nie schien es von Dauer zu sein. Irgendwann begriff ich, dass ich sie stets mit dir verglich. Ich habe in ihnen immerzu nur nach dir gesucht und wenn ich dich nicht fand, verlor ich das Interesse.

Immerzu habe ich nur nach dir gesucht.

Doch dann arbeitete ich als Freiwilliger im Krankenhaus und las den meist sehr jungen oder sehr alten Patienten ehrenamtlich vor. Da lief sie mir über den Weg. Sie war ebenfalls Patientin dort und bat mich, einige ihrer Geschichten zu lesen. Sie war noch jung und unsicher, was ihr eigenes Talent betraf. Ich konnte sie dazu überreden, mich eines ihrer Werke vor den Patienten vorlesen zulassen. Sie war so glücklich, als sie Lächeln wie Tränen über die Wangen der Zuhörer huschen sah. Sie war wunderschön, wenn sie lachte. Ich stand ihr bei ihrer Rehabilitation zur Seite und eines Tages erzählte mir einer der Ärzte beiläufig, dass es schlichtweg ein Wunder sei, dass sie nach einer so langen Zeit im Koma wach war und so gute Fortschritte ohne bleibende Schäden zeige. Und dass sie vielleicht sogar bald wieder tanzen konnte. Er sprach über all das,weil er vermutete, dass ich es längst wusste. Sofort überschwemmten diese Gedanken wieder meinen Kopf: Ich hatte mich mit Seelenreisen beschäftigt und es gab Berichte von Koma-Patienten, die Erinnerungen an Ereignisse hatten, die während ihres Schlafes stattgefunden hatten. Als habe sich ihre Seele von ihrem regungslosen Körper gelöst und sei umhergewandert. Es ließ mich nicht mehr los.Was,wenn du es warst und dich nur nicht an mich erinnern konntest? Wenn er deine Seele nur zufällig eingefangen hatte? Ich konnte an nichts anderes denken und erschrak über mich selbst. Sollte ich nach all den Jahren immer noch so besessen von dir sein? Ich lief davon.Verschwand einfach aus ihrem Leben. Erneut wusste ich nicht, ob ich sie nur liebte, weil ich die Hoffnung hatte, sie wäre du. Doch dann geschah etwas unerwartetes. Die Leere kehrte zurück. Ich fühlte mich wieder so, wie an jenem Tag, als du verschwunden warst. Ich hielt es ohne sie einfach nicht aus. Also ging ich zurück zu ihr und traf sie im Park des Krankenhauses, unter einem Vorhang aus Glyzinien, der herrlich duftete. Tränen liefen über ihre Wangen,als sie mich sah. Sie vergab mir. Wir heirateten wenig später.

Ich schreibe dir diesen Brief, weil ein Freund mir einmal erzählt hat, dass Briefe an die eigene Vergangenheit dabei halfen, sie zu überwinden. Also sitze ich hier und schreibe dir diese Zeilen. Ich werde sie an das alte Anwesen adressieren, von dem nichts weiter übrig ist als die Grundmauern des Kellers, in dem sich das Wasser sammelt. Es ist ein kleiner See daraus geworden, sagt Papa. Sicher könnte man gut darauf Schlittschuh laufen.

Ich habe diesen Brief an dein altes Haus adressiert, weil ich weiß, dass die Adresse noch vorhanden ist. Der neue Postbote der Gegend wird sehr unzufrieden mit mir sein, wenn er vor einer Handvoll Steinen und Büscheln von Gras steht, die sich unbeteiligt im Wind wiegen. Aber wohin soll ich einen Brief an dich sonst schicken?Sollte er nicht zugestellt werden können, habe ich vermerkt, dass er an meinen Vater gehen soll. Er weiß, wo er hingehört. Er wird ihn in die Ritzen der Mauersteine stecken und anzünden.

Wozu dann all das Aufhebens mit dem Briefträger, fragst du? Eine kleine Frechheit darf man sich ab und zu erlauben. Außerdem hat die Post fast meine Anmeldeunterlagen für die Universität verloren! Ich hatte also noch eine Rechnung offen.

Warum ich dir ausgerechnet jetzt schreibe, nach meiner Heirat? Ich wollte dir danken. Ich mag es falsch verstanden haben, aber ich habe immer gespürt, dass du in meiner Nähe warst und über mich gewacht hast. Vielleicht hast du mir auch meine liebe Frau geschickt, wer weiß? Sie weiß übrigens von dir. Ich habe ihr erzählt, dass meine erste große Liebe von mir gegangen ist. Und sie hat mich gebeten, dir immer einen Platz in meinem Herzen zu bewahren. Ist sie nicht wunderbar? Du würdest sie bestimmt sehr mögen.

Aber ich schweife ab. Weißt du, der eigentliche Grund für meinen Brief ist, dass wir bald eine Tochter bekommen. Ich werde ihr Pinocchio vorlesen und im Winter werde ich mit ihr nach Kincraig kommen. Wir werden ein gutes Leben haben.

Ich vertraue darauf, dass du bei uns sein wirst.

In ewiger Liebe,

Cornelius



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