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Mia

Es war Montag. Mein Gips war endlich ab und ich trug stattdessen eine abnehmbare Schiene. Auf meine Krücken war ich zwar immer noch angewiesen, aber das machte mir nichts aus.
Heute war mein erster Schultag. Ich hatte Angst, dass mich Leute ansprechen würden und ich ihnen erklären müsste, dass ich nicht die leiseste Ahnung hätte wer sie wären. Aber Jacks hatte mir versprochen mir keine Sekunde von der Seite zu weichen. Ich war ihm unglaublich dankbar, dass er für mich da war und mich unterstützte. Unsere Eltern unterstüzten mich natürlich auch, aber nicht auf die Art und Weise wie es Jacks tat. Ich hatte beschlossen ihn Jacks zu nennen. Dieser Name gefiel mir besser und es gab mir das Gefühl, dass unsere Beziehung dadurch stärker werden würde.
Ich saß gerade am Esszimmertisch und trank eine Tasse Tee. Ich wusste nicht ob ich Tee mochte oder nicht, aber Mum hatte sie mir hingestellt und ich angefangen sie leer zu trinken. Ich hatte immer noch keinen Appettit. Es gelang mir einfach nicht die notwendige Motivation - zum Essen - aufzubringen. "Bist du fertig?" Ich sah von meiner Teetasse hoch und sah in die blauen Augen von Jacks, die meinen so ähnelten. Ich nickte, schnappte mir meine Krücken und hüpfte ihm hinterher.

Er trug meinen Rucksack und hielt mir alle Türen auf. Jedes mal bedankte ich mich bei ihm, auch wenn er von Anfang an klar stellte, dass ich das nicht tun müsste, tat ich es. Inzwischen verdrehte er dann nur noch die Augen, anstatt Anmerkungen fallen zu lassen und belies es dabei.

"Können wir das Radio an machen?", fragte ich nach ein paar Minuten der Stille. Ich verspürte auf einmal große Lust Musik zu hören, anstatt diese Stille zu ertagen. Jacks schaute auf einmal ganz überrascht und warf mir ein kurzes Grinsen zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. "Das hast du immer gemacht. Es gab keine einzige Autofahrt mit dir ohne Musik. So langsam kommst du zu mir zurück." Er schaltete das Radio ein und sagte dann nichts mehr. Was meinte er mit:'So langsam kommst du zu mir zurück'? War das etwas Gutes?

"Wir sind da.", riss mich Jacks ganz plötzlich aus den Gedanken. Es war schwer für mich mit diesen vielen Informationen in meinem Kopf klar zu kommen und mich gleichzeitig auf das Geschehen in meiner Gegenwart zu konzentrieren.  Jacks eilte ums Auto und machte mir die Tür auf. Er reichte mir die Hand, damit ich leichter heraus kam und zog mich hoch. Dann schnappte er sich seinen Rucksack und warf ihn sich über seine Schulter, während er meinen in der Hand trug. Wir verließen das Auto und liefen direkt auf eine Gruppe Jungs zu, die ich sofort als Jacksons Freunde identifizieren konnte. Dieses Gedächtnis hatte eben doch seine Vorteile. Ich merkte wie uns alle, die sich draußen vor der Schule aufhielten, anstarrten. "Wieso starren uns denn alle so an?", fragte ich ihn etwas verunsichert. "Lass sie doch starren." Er nahm das anscheinend nicht ganz so wahr, aber anscheinend war Jacks hier ziemlich bekannt.  "Weißt du, welches Fach du jetzt hast?", fragt mich Jacks sattdessen. Ich nickte stolz und sagte ihm, dass ich gestern einen Blick auf meinen Stundenplan geworfen hatte und deshalb den ganzen Plan der Woche vor meinem "inneren Auge' sehen konnte. Es war so faszinierend, dass ich das konnte und ich war jedes mal aufs neue davon überwältigt.

Wir liefen zu dem Klassenzimmer, in dem ich jetzt Unterricht hatte. Aber anstatt sich vor der Türe von mir zu verabschieden, lief er geradewegs in das Zimmer rein und legte meine Bücher die wir zuvor aus meinem Schließfach geholt hatten, sorfältig auf einen Tisch und stellte meinen Rucksack neben dem Tisch auf den Boden. "Jacks, Ich glaube du bist peinlich. Alle starren schon hier her.." Der lachte nur. Ernsthaft? "Glaub' mir, ich bin nicht peinlich, diese Leute bewundern mich. Jetzt setz dich hin, sei lieb zu allen und verrate keinem was von deinen Superkräften." Ich lachte über diese Scherze. Zumindest hoffte ich, dass es Scherze waren. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand elegant und zügig aus dem Klassenzimmer.

Das Klassenzimmer füllte sich allmählig und somit ruhten auch immer mehr Blicke auf mir. Es wäre wohl immer noch eine Untertreibuntg zu sagen, dass ich mich hier mehr als unwohl fühlte. Ein Lehrer mittleren Alters kam herein, ließ  seine braune vollbepackte Ledertasche mit einem Satz auf dem Pult landen und begrüßte uns alle. Er führte seinen Geschichtsunterricht ganz alleine durch, ohne mit der Klasse zu arbeiten. Er rief weder einen Schüler auf, noch nahm er einen drann. Okay das wäre auch schwer, da sich keiner meldete. Es ging um die französiche Revolution. Sobald der Lehrer, dessen Name mir unbekannt war, aber ich nicht nachfragen wollte, da nicht jeder wissen sollte, dass ich mein Gedächtnis verloren hatte, das Thema nannte, ballerte mich mein Gehirn mit sämtlichen Daten bezüglich des Themas voll. Ich war so von mir selbst fasziniert, dass ich gar nicht mit bekam, dass bereits die Doppelstunde vorbei war, und alle in die Pause gingen. Ich sollte wirklich damit anfangen meine Außenwelt nicht komplett auszublenden, wenn ich meinen Gedanken oder was auch immer nachging.

Ich hiefte mich von meinem Stuhl hoch und packte meinen Block und mein Buch in meinen Rucksack.

„Hey! Das ist meine Aufgabe." Völlig entgeistert starrte ich den Flur entlang. Einige Meter von mir entfernt stand Jacks, der mich gespielt geschockt ansah und zu mir eilte. Er schnappte sich meinen Rucksack und drängte mich die Schulgänge entlang. „Du liebst es wohl, die ganze Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, oder?", fragte ich ihn belustigt, aber auch etwas genervt. „Ich kann nichts dafür, dass mir die Aufmerksamkeit der Leute zu Füßen liegt. Das ist eben meine Gabe. Du hast das Supergedächtnis und ich das hier." Er gestikulierte mit den Händen wild umher. Ich kicherte über sein Verhalten. Zu Hause spielte er sich nie so auf, bzw. ging er dort nicht so aus sich heraus. Immer wenn es brenzlig wurde verschwand er sofort im Fitness Raum und stemmte Gewichte, oder machte was auch immer. Kein Wunder, dass er so abnormal viele Muskeln hatte, obwohl er gerade aus dem Teenie-Alter herausen war. Wir gingen in einen Raum in dem schon die halbe Schülersippe versammelt war. Alle unterhielten sich an Tischen und die meisten verspeisten dabei ihren Lunch. Das war also die Mensa. Interessant.

Jacks ging voraus und ich hüpfte ihm hinterher. Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen. Okay, eigentlich musste er das gar nicht, da jeder der in seiner Laufbahn stand, meistens verängstigt das Gesicht zusammen zog und so schnell wie möglich abhaute. Das war seltsam. Wieso sollte jemand Angst vor Jacks haben? Zugegeben er war stark, sehr stark und er hatte viele Freunde die auch nicht gerade wenig Muskeln besaßen und er sah in seiner Lederjacke manchmal etwas einschüchternd aus...

Ja okay. Vielleicht wäre es ein bisschen nachvollziehbar, wenn jemand Angst vor ihm hätte. Aber ich wusste, dass er eigentlich ein ganz netter Typ war. Er war schließlich mein Bruder, also mussten wir uns ja irgendwie ein bisschen ähnlich sein, vor allem, wenn wir den selben Genpool besaßen. Und was ist wenn ich vor diesem Unfall eine richtige Bitch war, die jeden fertig gemacht hat? Nein! Das war unmöglich. So würde ich mich nicht verhalten. Niemals! Und Jacks genauso wenig.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mir Jacks den Stuhl zurück zog, damit ich mich setzen konnte. Am Tisch saßen bereits viele von Jacks' Freunden, die sich, wie alle anderen auch, lautstark mit ihren Tisch- Amigos unterhielten und aßen. Mum hatte mir ein Brot eingepackt, in der Hoffnung ich würde es essen. Es tat mir im Herzen weh, sie enttäuschen zu müssen, aber dieses Gefühl, wenn ich einen Bissen herunterschlucken wollte, war unerträglich. Es fühlte sich so an, als würden sich Muskeln um meine Speiseröhre anspannen und meinen kompletten Mageninhalt hochholen. Widerlich! Allein der Gedanke daran drehte mir den Magen um. „Bist du okay?" Jacks sah mich besorgt an. Nein, ich war nicht okay. Mir ging es nicht gut. Ich fühlte mich hier nicht wohl und ich wollte mich übergeben. Ich war mit der Gesamtsituation überfordert. Aber wenn ich es ihm sagen würde, würde er sich unnötig Sorgen machen und mich damit konfrontieren. Das wollte ich beides nicht. Statt es ihm also zu sagen rang ich mir ein Lächeln ab und antwortete nicht darauf. Ich wollte ihn nicht anlügen. In meinen Augen war nichts sagen immer noch besser als zu lügen.

Mein Bruder und IchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt