Als ich Punkt Ein Uhr vor dem „Red Dragon" eintraf, stand Mycroft schon dort und stützte sich auf seinen Regenschirm. Das war so typisch, dass ich nicht anders konnte, als zu schmunzeln.
„Sie sind pünktlich, Dr. Watson. Das schätze ich. Kommen Sie."
Er öffnete mir die Tür zu dem chinesischen Restaurant und führte mich dort auch direkt in eine der Nischen, die eine Tür hatten, die man schließen konnte und so unter sich war.
Ein Kellner war sofort an unserem Platze, und wir bestellten beide eine Kleinigkeit und Jasmintee. Nachdem das Essen gebracht wurde, schloss Mycroft die Tür.
„ Ich schlage vor, Dr. Watson, dass wir uns erst diesen Köstlichkeiten widmen. Das Essen in diesem Lokal ist von erstklassiger Qualität, und es wäre eine Sünde, ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken."
Mir war das recht, da ich durchaus Hunger hatte und so ließen wir es uns mehr oder weniger schweigend schmecken.
Nachdem die Teller abgeräumt waren und Mycroft uns beiden Tee eingeschenkt hatte, faltete er die Hände, ähnlich wie sein Bruder es immer tat, sah mich an und fragte:
„Nun, Dr. Watson, was kann ich für Sie tun?"
Und, um mich nun meinerseits aus der Fassung zu bringen, setzte er hinzu:
„Lieber Schwager ..."
Ich war inzwischen allerdings an einem Punkt, an dem mich so schnell nichts aus der Fassung bringen konnte.
Jedenfalls glaubte ich das in diesem Augenblick.
Es sollte nur ein paar Minuten dauern, bis ich feststellte, dass ich mich mit dieser Einschätzung gründlich geirrt hatte.
„Mycroft. Ich weiß, dass Sherlock, mein geliebter Partner ..." Ich betonte die letzten beiden Worte besonders, „ ... bereits vor Zustandekommen unserer Liebesbeziehung, von der Sie zweifelsohne wissen ..." Er winkte ab. Natürlich wusste er Bescheid. „ ... mit Ihnen über die Art und Weise bestimmter sehr intimer Details dieser Beziehung diskutiert hat."
Mycroft tat mir zumindest nicht den Schimpf an, mich zu belügen, soviel muss zu seiner Ehrenrettung gesagt sein.
Er nickte.
„In der Tat, Doktor. Mein Bruder trat mit der Bitte um Rat an mich heran und ich habe mit ihm die verschiedenen Möglichkeiten erörtert."
„Und Sie sind zu dem Ergebnis gekommen ..."
„Nun, dass eine offene Beziehung, bei der beide Partner das Recht haben, sich die körperliche Befriedigung auch außerhalb der Beziehung zu suchen, und das Konzept der Treue sich ausschließlich auf die Treue des Herzens und des Kopfes bezieht, die beste Lösung sei."
„Ach ja? Die beste Lösung für wen?"
Ich merkte, wie schon wieder die Wut in mir hoch stieg.
„Nun, Doktor, einerseits für Sie. Denn es ist nicht abzusehen, wann beziehungsweise ob überhaupt jemals Sherlock Interesse an sexuellen Aktivitäten entwickeln wird. Und wir wissen ja, dass Sie dagegen in der Vergangenheit auf diesem Gebiet recht umtriebig gewesen sind."
Ich schnaubte.
„Ach, und da glauben Sie einfach mal, ich bin nicht in der Lage, mich um meines Partners Willen zurückzunehmen?"
„Warum sollten Sie das für Sherlock tun?"
Mein Blut begann zu kochen.
„Weil ich ihn liebe? Weil er mir wichtiger ist, als alles andere? Aber verdammt noch mal, von diesen Dingen haben Sie ja keine Ahnung!"
Mycroft nahm ungerührt einen Schluck Tee.
„Dr. Watson, ja, ich stehe auf dem Standpunkt, dass Gefühle eine Schwäche sind, ein Fehler, der den Menschen angreifbar macht und einige Kapazitäten des Geistes blockiert, die für wichtigeres gebraucht werden. Ich selber lasse keine ..." Er zögerte -
„ ... nun, nahezu keine Gefühle zu. Und wenn es mir doch einmal geschieht, kann ich anders damit umgehen, als mein haltloser Bruder."
„Hören Sie, Mycroft, wenn Sie jetzt anfangen wollen, Sherlock zu beleidigen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse."
„Keineswegs, Dr. Watson. Bevor Sie sich jetzt echauffieren, lassen Sie mich zum andererseits kommen. Ja, ich denke, auch für Sherlock wäre eine solcherart offen gehaltene Beziehung das Beste, jedenfalls vorerst. Sie wissen selbst, wie schnell er sich unter Druck setzt, wenn er Dinge nicht gleich hinbekommt. Wenn er jemandem gerecht werden will, was normalerweise Klienten betrifft, deren Fälle er lösen will, jetzt allerdings Sie als seinen Partner, den er glücklich machen will, dann steckt er alle Ressourcen in diese Aufgabe. Und aufgrund seiner psychologischen Vorgeschichte, in die ich auch seinen Hang zum Suchtverhalten mit einbeziehe, gilt es, eine solche Situation zu vermeiden."
„Aber er wird mir gerecht. Auch ohne Sex."
„Nun gut, Doktor. Wenn das so ist, dann ehrt Sie das. Allerdings fällt es schon mir nicht leicht, daran zu glauben, dass das dauerhaft so bleibt. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es Sherlock fallen muss?"
Ich atmete tief durch.
Dann nickte ich.
Ich machte den Fehler, auf Mycroft zu hören, und nicht bei meiner ersten Regung zu bleiben, klar und ehrlich zu kommunizieren was Sache ist. Ich kann mir nur zu Gute halten, dass ich es mit den besten Absichten tat.
„Gut", sagte ich also, „Lassen wir Sherlock in dem Glauben, ich würde ... mir meine Bedürfnisbefriedigung anderswo suchen."
Ich seufzte. Wohl war mir bei der Sache nicht.
Eine Weile war ich in Gedanken und merkte nicht, wie Mycroft mich aufmerksam musterte.
„Werden Sie es denn auch tun?"
„Was werde ich tun?"
„Nun, John, Ihre Befriedigung anderswo ..."
Ich fiel ihm ins Wort.
„Nein!"
Jetzt war ich echt sauer.
„Mycroft Holmes. Ich bin ein Mann und habe Spaß an Sex. Ja. Aber jetzt bin ich mit Sherlock zusammen, und ich werde nicht in der Gegend rumvögeln! Herrgott noch mal!"
Das ganze kam mir in diesem Moment so surreal vor. Hier saß ich und unterhielt mich mit Mycroft Holmes über Sex.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Entgegen meiner Annahme von vorhin schaffte dieser Mann es nämlich locker, mich aus der Fassung zu bringen.
„Nun, das kann ich gut verstehen, John."
Warum sprach er mich eigentlich inzwischen mit Vornamen an?
„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen", fuhr er fort.
„Sie sind ein attraktiver Mann, gepflegt, charmant. Falls Sie also an einen Punkt kommen, wo Sie Ihre Bedürfnisse ausleben möchten, und nicht, wie Sie es ausdrücken, wild rumvögeln möchten ... nun ... wäre ich gerne bereit, Ihnen dafür zur Verfügung zu stehen."
Ich glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
„Wie Bitte?"
„Nun, John, ich würde in einem solchen Falle gerne mit Ihnen Sex haben."
Mir fiel die zarte Porzellantasse aus der Hand, und der heiße Jasmintee ergoss sich über meine Hose.
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Er und ich und ... andere?
FanfictionManchmal bin ich, Dr. John Watson, ein ziemlicher Idiot. Irgendwie ist es aber auch typisch für uns. Eine halbe Stunde nach unserem Liebesgeständnis einen lautstarken Streit zu haben. Dabei sollte ich doch wissen, wie Sherlock ist. So gut er deduz...