SECHS

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Samstag
20.05.2017

Mit einer Flasche Wodka betrat ich den Skatepark und sah ihn an, wie er sorgenfrei auf einer Rampe saß. Um ihn herum das Licht der Laternen und weiter außen war alles nur unklares schwarz. Carlos war weit weg und doch viel zu nah bei mir.
In seiner Hand hielt der Aschenbecher wie immer eine Zigarette. Er saß mit dem Rücken zu mir und bemerkte mich nicht in einer Sekunde; in der ich ihm näher trat und um ehrlich zu sein, ich wollte nicht das er mich sah.

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Auf der Tanke hatte ich mir den verschmierten Mascara aus dem Gesicht gewaschen und diese Flasche gekauft. Dabei war ich bis kurz nach 12 noch unentschlossen, ob ich überhaupt hier her kommen sollte. Der Verkäufer hatte mich dann irgendwann auch aufgefordert etwas zu kaufen, oder zu gehen, dann haben wir angefangen zu reden. Ich wollte nicht hier her kommen, aber mir fiel nichts anderes ein. Dabei hatte mir auch der Typ von der Tanke ein Bett angeboten. Worauf ich die Flasche bezahlte und gehen wollte, denn er war schon ziemlich komisch. Nicht so komisch wie Carlo, anders komisch, verrückt komisch zu komisch . Ich wusste jedoch immer noch nicht wohin ich gehen sollte. Zu Kathy wollte ich nicht. Es war egal wie oft sie mich anrief, wie viele Nachrichten sie mir sendete. Wie verzweifelt ich war. Ich blieb auf der Tanke. Bis sie schloss und ich mich entschlossen hatte, hier her zu kommen. Dennoch hatte ich insgeheim gehofft, er würde jetzt nicht mehr da sein. Immerhin waren seit der Nachricht viele Stunden vergangen.
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Nach und nach lief ich auf ihn zu, schloss meine Augen und hörte seine Stimme vor mir ertönen, bevor er sich überhaupt umdrehen konnte.

"Ich lass die Leute auch oft warten."

Von der Seite aus konnte ich sein Lächeln erahnen. Eher ein freundliches nicht wie sonst.

Mein Mund stand offen. Ich behielt Abstand, Rarmachen.
Als er mir die Hand jedoch reichte, damit ich auf die Rampe kommen konnte, nahm ich sie an. Wir sahen uns an und ganz kurz blieb alles stehen.

Wie kann man diesen Menschen nicht lieben?

Ich ließ mich neben ihm nieder, gab ihm die Flasche und rutschte aufs andere Ende der Rampe hinüber. Wie er ließ auch ich meine Beine nach unten hängen; vermied im Gegensatz zu ihm allerdings Augenkontakt. Denn auch wenn ich es nicht zugeben wollte, er war in gewisser Weise wirklich schön. Sein ganzes Gesicht. Ein Grund mehr warum er mir ins Auge gefallen war.

"Willst du fahren?"

Er deutete auf das Board neben sich und ließ es zu mir hinüber rollen. Es brauchte nicht lange um zu bemerken, dass es das Board war, welches er heute gekauft hatte.

Desto trotz sah ich es lange an. Das letzte Mal das ich auf einem Skateboard stand, war vor einigen Jahren. Das Board hatte meinem Bruder gehört. Ich hatte es gestohlen und war erbärmlich gescheitert. Einige Meter verlief alles gut und auf einmal saß ich auf dem Boden. Es tat höllisch weh und trotzdem hatte ich gelacht. Das Skateboard hatte es zum Glück überlebt und mein Bruder meinte ganz trocken "Karma" Dabei glaubte er nicht einmal dran.

"Wenn du das Board ganz zurück haben willst, dann ist das ne dumme Idee."

"Mit dem Board kannst du machen was du willst. Ich schenk es dir."

Er hatte es nur für mich gekauft, hieß das er hatte mich schon zuvor gesehen? Er musste meine Verzweiflung gesehen haben, meine Tränen, als ich auf die Straße gerannt war. Was wollte er damit bezwecken?

Er öffnete die Flasche und reichte sie mir. Mein Ausdruck war leer. Worte brauchte er keine um meine Frage zu verstehen.

"Du sahst nicht gerade glücklich aus. Ich will keinen Grund wissen, will nicht dass du dich bei mir aus heulst. Ich will nur nicht, dass du wegen irgendwas weinst."

Er hatte Schuldgefühle. Carlo Waibel dachte er wäre der Grund für meine Tränen. Vor meinem ersten Schluck, nahm er die Flasche an sich und nahm gleich drei. Dann bekam ich sie und machte es ihm gleich.

Stumm blieben wir sitzen. Komischerweise machte mir dies gar nichts aus. Seine Nähe reichte mir im Moment. Einsamkeit hatte ich schon so oft erfahren und ich wusste, dass es ihm nicht anders ergangen war.

Mit dem Skateboard in der Hand rutschte ich die Rampe hinunter und kassierte dafür ungläubige Blicke meines Begleiters.

"Gehst du etwa?"

Seine Stimme klang überrascht. Möglicherweise waren wir uns ähnlicher als es uns selbst lieb war.

"Ne, ich fahre jetzt."

"Warte, ich helf dir."

Wenige Sekunden später stand er neben mir und reichte mir seine Hände. Sie waren warm.

Kalte Hände warmes Herz.
Warme Hände Carlo Waibel?

Seine raue Stimme drang zu meinen Ohren. Er erklärte mir was ich tun sollte und ich flippte beinahe vollkommen aus. Da nichts funktionieren wollte.
Irgendwann ließ er mich los und mit gefühlten 100 km/h raste ich nach vorne. Ich verlor sie Kontrolle, hielt mir die Hände vors Gesicht und hörte seine Schreie.

"Carlo!"

"Lina, mach die Augen auf. Da ist n' Baum!"

Kurz darauf kippte ich nach vorne. Mit den Händen ruderte ich in der Luft herum. Bis mein Gesicht an etwas weichem auf prallte.

Entweder war es sehr viel Moos oder Carlo war der Baum.

"Wenn du mich verarscht hast, bring ich dich um."

Er lachte, sagte nichts und ich öffnete meine Augen, sah zu ihm hoch und er zog meinen Kopf noch näher zu sich.
Das Board war in seiner anderen Hand und schmunzelnd beteuerte er.

"Da es noch ganz ist, gehört es wieder mir."

Mit meiner Handfläche boxte ich gegen seine Brust. Erklärte ihm meine Sichtweise, bis er mir das Board wieder gab.
Schlussendlich saßen wir wieder auf der Rampe. Die Flasche war langsam leer und ich hatte plötzlich Vertrauen zu dem Mann, an dessen Schulter ich mich lehnte.

"Hast du es geschafft?", murmelte ich ihm fragend ins Ohr.

Verwirrt runzelte er seine Stirn.

"Was meinst du?"

Sein Blick schweifte mehr zu mir hinüber. Mein Kopf allerdings blieb auf seiner Schulter liegen.

"Hast du deinen Beruf aufgegeben, damit du deinen Traum folgen kannst?"

Zaghaft nickte er. Als wäre dieses Thema noch nicht abgeschlossen.

"Und was ist deine Leidenschaft?"

Kurz machte er eine Pause, schloss wie ich zuvor meine Augen und sagte mit Entschlossenheit.

"Musik."

Ich setzte mich auf. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich dachte er würde Theater machen. Weil er sich gut verstellen konnte.

"Warum?"

Er sah mir in die Augen. Sie glänzten.

"Weil Musik verbindet."



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