ZWANZIG

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Donnerstag
15.06.2017

Am Donnerstag war ich nicht mehr bei der Waibel Familie. Ich war weder bei jemanden von ihnen, noch bei ihrem VioVio Kram. Ich war nicht bei meinem Bruder und auch nicht zuhause bei meinem Dad. Mein Handy hatte ich ausgeschaltet, meinen Laptop nicht dabei. Ich saß scheinbar alleine in dem Hörsaal, war dennoch mittendrin und hörte meinem Professor zu.

Nur wegen einem Grund.

Ich wollte wieder seinen Kurs besuchen, ich wollte wieder offiziell an diesen Vorlesungen teilnehmen. Irgendwo musste ich ja sein und bei VioVio war definitiv nicht mein Platz. Ich hielt es nicht mehr aus. Familie Waibel war Geschichte. Carlo war meine Vergangenheit.

Ich wollte Kunst machen und wenn ich dafür in diesem Raum sitzen musste, dann sollte es halt so sein. Es war schließlich mein Traum und so kam ich ihm wenigstens ein Stück näher und doch gleich weit wie wenn ich zuhause saß. Kurz gesagt ich redete mir ein, dass ich weiterkam, blieb stattdessen stehen.

"Geben wir lieber unsere Freiheit auf?"

Ich hatte niemanden gesagt wo ich war, nicht einmal unser einstiges Schicksal hatte einen Plan. Seine Stimme neben meinem Ohr wahrzunehmen, ließ mich für kurze Momente erstarren. Woher hatte er davon gewusst?

"Oder ich nur meine?"

Schockiert und irgendwie beeindruckt sah ich ihn an. Seine braunen Augen funkelten. Ich sah seine kleine Unendlichkeit in ihnen und wünschte, wie dumm es sich auch anhört immer noch, ein Teil davon zu sein.

"Warum bist du hier?"

Wir saßen im hintersten Eck dieses Saales, trotzdem fühlte es sich so an, als ob uns jeder ansehen würde.

Seine Hand griff nach meiner, ich zog sie weg. Ich ging ihm aus dem Weg und traf ihn auf irgendeine Weise doch jeden Tag. Die Scherben fielen wieder auf dem Boden und ich wusste nicht, ob sich ein Aufsammeln rentieren würde.

"Was willst du von mir?"

Meine Stimme wurde lauter. Er machte mich verrückt. Ich war doch gerade dabei mich zu fangen. Ich war dabei mein Leben ohne ihn anzufangen. Wir hatten nie eine Chance. Das zwischen uns war nur ein Spiel. Es war ein Spiel und wir hätten es beide akzeptieren sollen.

Er das es Vergangenheit war und ich das mit dem Spiel.

"Ich möchte mit dir reden."

Ein weiteres Mal griff er nach meiner Hand, dieses Mal zog ich sie nicht weg.

"Über was?"

Er kaute auf seiner Unterlippe herum, alles in mir verkrampfte sich. Es war dumm Raupen zu fressen, nun flogen tausende Schmetterlinge in meinem Bauch herum und mit ihnen ein kleiner Hauch Hoffnung.

"Ich hab dir was verschwiegen."

Seine Worte waren dumpf. Die Kraft in seiner Stimme fehlte. Das was zeigte, dass es nur einen Carlo Waibel gab, war weg. Er wirkte eingeschüchtert. Seine Hand zitterte. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Wir waren uns dafür noch viel zu fremd und plötzlich war er Verwechselbar.So hätte er jeder andere Typ sein können. So hätten wir uns zum ersten mal treffen können. So wäre alles wie immer verlaufen. Wir wären ein Paar geworden und hätten später gemerkt, dass wir ein großer Fehler zusammen waren. Er war von dem einem auf den anderen Moment wie jeder andere.

Nur für mich war er einmalig.

"Was denn?"

Ich schaffte es selbst nicht mehr meine Worte ohne dabei zu zittern zu sprechen. Plötzlich bekam ich unheimlich Angst. Schließlich kam nicht jeden Tag ein Mensch, der einfach so verschwunden war.

"Die Wahrheit."

Und ich will nicht leugnen, dass dadurch mein Herz viel zu schnell schlug. Die Wahrheit ging es mir durch den Kopf. Er wollte mir die Wahrheit sagen. Ich verstand nur nicht, was das ihm brachte. Waren wir denn bei der Show 'Wie oft können Herzen brechen?' Es fühlte sich nämlich genauso an.

Mein Blick wendete sich auf den leeren Platz neben mir. Seine Nähe hielt ich nicht länger aus, ich musste hier raus.

"Lina!" , rief er mir nach. Ich kannte meinen Namen und lief deshalb  Richtung Campus weiter. Das er mir nachkam ignorierte ich. Ich musste es nur zu meinem Motorrad schaffen. Dann würden wir uns nie wieder sehen. Dann hätten wir uns nie wieder getroffen. Dann wäre es wie immer gewesen.

Als ich jedoch schon auf meinem Motorrad saß, fiel mir auf, dass ich meinen Helm vergessen hatte.

Es waren Sekunden, in denen ich überlegte einfach ohne ihn zu fahren, in diesen Sekunden hatte es Carlo geschafft mich einzuholen.

Seine raue Stimme gelang ein weiteres Mal zu meinem Ohr, seine Hände legte er um meinen Bauch.

"Hör mir doch zu."

In mir staute sich Wut auf. Wer dachte er zu sein? Er wollte mir die Wahrheit sagen und spielte weiter. Verarschen konnte ich mich selbst.

Ich riss mich aus seinem Griff, stieg vom Motorrad ab, um später daneben zu liegen und sah ihn mit einem leeren Blick an. Tränen sammelten sich in meinen Augen.

Nicht wegen dem Schmerzen vom Fall, sondern wegen dem Typ vor mir.

Ich liebte diesen Kerl, ich liebte und hasste ihn zur gleichen Zeit. Wie konnte er mich mit einem einfachen Blatt zurück lassen. Wie konnte er mir das antun?

Wie in Zeitlupe stieg er vom Motorrad ab. Er kam mir nah und ich behielt die Entfernung bei, kroch am Boden entlang.

"Warum sollte ich das tun? Das Spiel ist vorbei, du hast gewonnen. Das Geld liegt auf dem Tisch und wir sind Vergangenheit. Warum sollte ich dir zuhören?"

Auf einmal blieb er stehen, fragte sich wahrscheinlich selbst warum er hier war oder was er tat. Ich konnte es ihm sagen. Er war gerade dabei sich selbst zu blamieren. Ich wollte ihn nicht mehr sehen.

"Weißt du noch? Girl, ich brech dir nur dein Herz. Weißt du noch? Du hast es geschafft."

Ich stellte mich auf meine Beine, wartete auf irgendein Wort von ihm. Allerdings blieb er stumm. Ich wusste es, er war eine Memme.

"Es tut mir leid. Ich wollte dich wirklich nicht verletzen."

Seine Hand hielt mich am Handgelenk fest. Er hatte einen festen Griff. Ich wollte mich frei reißen, schaffte es nur nicht.

"Du wolltest nur dich selbst nicht verletzen, um jemand an sich ranzulassen braucht man nur Vertrauen und ganz viel Mut."

Erneut ließ er mich los, wiederholte seine Entschuldigung. Verachtend betrachtete ich ihn. Er kam mir nicht mehr näher, blieb stehen, wirkte eingeschüchtert.

"Du machst mir das alles nicht sehr leicht. Ich möchte nur mit dir reden."

Mein Geduldsfaden riss.

"Dann rede halt!"

Ein paar Studenten waren hier immer unterwegs, und jeder von ihnen stand um ins herum. Ich verstehe, dass er stumm war, aber ich verstehe nicht warum er weiter sprach.

"Man Lina... ich... halt ich... ich möchte, dass wir es probieren. Das mit Beziehung und so... einen Neustart.. du und ich... ohne... halt keine Wette... ich meine wäre doch cool oder?"

Ich verstand ihn nicht. Verstand nicht warum er das aufeinmal wollte. Er log. Ich hatte kein Vertrauen mehr in ihn. Nicht einmal seine dramatischen Bewegungen halfen ihn dabei.

"Ach echt? Du und Beziehung? Warum jetzt aufeinmal?"

Seine Versuche waren zwar nett aber nicht hilfreich, irgendwann hört jegliches Vertrauen auf, selbst wenn man diese Person abnormal liebt.

"Was kann ich tun, damit wir eine Chance haben?"

Mit kleinen Schritten trat ich ihm näher, legte meine Hand auf seine Brust und flüsterte ihm eine Aufgabe ins Ohr, bei der ich wusste er würde sie niemals tun. Ich hatte abgeschlossen.

"Lass deine Maske fallen."

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