ZWÖLF

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Montag
29.05.2017

Entsetzt starrte ich ihn an. Er starrte ebenso entsetzt zurück. Ich hatte ihm nicht gesagt wo ich war, er kannte Carlo und er war der Grund wieso ich heute hier stand. Ohne ihn wäre ich Carlo wohl nie begegnet. Meine ganze Geschichte wäre anders verlaufen. Ich hätte mein Studium nie beendet. Trotzdem war ich in seinen Augen die Schuldige, weil er es ja nicht sein konnte. Er hatte mir nicht mal gesagt, dass auch er da war. Die Party wäre anders verlaufen, wenn er mit mir gesprochen hätte. Dieser Vollspast hingegen meinte, er müsse es mir nicht sagen.

"Wie konntest du nur?"

Beinahe gleichzeitig verließen unsere beiden Münder diese eine Frage. Seine Hand griff nach meinem Arm, den ich blitzschnell von ihm weg zog.

"Ich dachte ich würde dir etwas bedeuten", beteuerte ich mit zitternder Stimme. Unterdrückte den Schmerz.

Eines muss ich in diesem Punkt zugeben, wir waren keine richtigen Geschwister. Er war das leibliche Kind unserer Eltern und ich lediglich das kleine Mädchen, das mit 6 Jahren von zwei der nettesten Menschen, die ich kannte, aufgenommen wurde. Ich hatte nie ganz zu dieser Familie gehört. War nur das adoptierte Kind. Julian hatte mich dennoch immer wie eine richtige Schwester behandelt. Er war daran Schuld, dass meine Kindheit einigermaßen schön war.

"Ich dachte du hättest Geschmack."

Aus diesem Grund schmerzten seine herablassenden Worte und Vorwürfe ein wenig mehr. Ich hätte ihn nie so verletzen können, wie er es bei mir tat. Dafür war ich zu weich und er hatte dafür zu viel Familie.

"Dann haben wir uns wohl beide geirrt."

Leicht zitterte meine Unterlippe und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Warum konnte er nicht sagen, dass ich immer noch ein Teil seines Lebens war? Warum konnte er mich behandeln, wie er wollte, ohne dass ich je sauer auf ihn gewesen wäre? Hatte er mit mir wirklich abgeschlossen?
Die Luft gelang einfach nicht mehr in meine Lunge.

"Ich wäre nicht hier, wenn es so wäre."

In meinem Kopf drehte sich alles. Mir war tatsächlich schlecht. Nicht wie das eine Mal mit Carlo. Heute war es real. Leicht schwankte ich nach vorne, konnte mich nur schwer auf den Beinen halten. Meine Hand fasste nach dem Rahmen der Türe. Angeschlagen sah ich zu Julian hinauf.

"Es ist mein Leben."

Das hatte ich schon einmal gehört und kein Verständnis gezeigt. Wahrscheinlich muss man es selbst erlebt haben, bevor man urteilen darf.
Kaum bemerkbar nickte er. Meinte dabei genau das Gegenteil und trat mir einen Schritt näher. Es war nur einer. Es kam mir jedoch vor als wären es hunderte gewesen.

"Ich bin dein Bruder."

Seine Hand strich meiner Wange entlang. Ohne nachzudenken schlug ich sie weg.

"Nein, nein, dass bist du nicht."

Daraufhin tauchte in seinem Gesicht ein Ausdruck auf, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Etwas wie Trauer. Er war nicht mehr unbesiegbar. Er zeigte Schwäche, war verletzlich. Ich hatte ihn getroffen und gleichzeitig mich selbst. Julian war noch nie mein Bruder und würde es nie sein. Die einzige Person, die immer meine Familie gewesen war, war plötzlich nur ein Fremder. Und ich, ich war...

"Melanie..."

Mit der neuen Familie folgte auch ein neuer Name. Niemand wollte mich umbennenen, niemand nur ich. Meine Mutter hat mir den Namen Paulina gegeben und ich war bereit ihn zu tragen. Bereits mit 6 Jahren hatte ich meinen Neubeginn. Mit einer Mutter, einem Dad und einem Bruder.

"Ich bin hier um für dich da zu sein. Melanie."

Dieser Name gehörte nicht zu mir. Hatte er noch nie.

"Hör auf! Ich heiße nicht Melanie."

Meine Hand lag auf seiner Brust. Mein Kopf war zum Boden gesenkt. Mehrmals schlug ich auf ihn ein. Bei jedem weiteren Schlag strengte ich mich mehr an. Er tat nichts, stand einfach so da.

"Komm mit zu mir. Er ist nicht der, für den du ihn hältst."

Er drückte mich an sich. Zwanghaft probierte ich mich von ihm zu lösen. Meine Schreie erstickten in seinem T-Shirt. Ich stoß mich von ihm ab. Kam keinen Millimeter weiter.

"Ich bin nicht Melanie. Warum nennst du mich Melanie?"

In diesem Moment wollte ich nicht mehr seine Schwester sein. Ich war es dort nicht. Bloß ein Unbekannter stand vor mir und hielt mich fest.
Meine Hände boxten gegen seine Brust. Zumindest probierte ich es.
Solange bis mich zwei Hände nach hinten zogen und mich an sich drückten.

"Man Julian, was ist in dich gefahren?"

Carlos Stimme schoss mir ins Ohr und gleichzeitig sah ich den Mann vor mir mit wässrigen Augen an. Er hatte mir nichts getan und trotzdem wollte ich ihn nie wieder sehen. Für Wimpernschläge vergaß ich, alles was er je für mich getan hätte. All das was Bedeutung trug, verlor sie.

"Was in mich gefahren ist? Hast du das wirklich gefragt?"

Wut spiegelte sich in seinen Augen wieder. Carlos Hände hielten mich weiterhin von hinten fest. Meine leisen Bitten mich los zu lassen wurden entweder überhört oder gekonnt ignoriert.

"Ja, hab ich. Immerhin hast du dich erst vor Wochen wieder gemeldet und jetzt stehst du hier und hältst Lina gegen ihren Willen fest. Also Julian was ist in dich gefahren."

Aus Provokation wollte er ihn näher kommen, stoppte dennoch, nur um mich nicht loslassen zu müssen.

"Carlo... Carlo, wenn ich dir vorstellen darf Melanie meine Schwester."

Die Arme um mich verschwanden. Für einen kurzen Moment sackte ich ab.

"Ich heiß nicht Melanie."

Ohne mich umzudrehen wusste ich,dass Carlos Blick mich durchlöcherte. Meine Stimme wurde lauter.

"Ich heiß nicht Melanie und du bist nicht mein Bruder!"

Ich rannte auf ihn zu, wurde von Carlo zurückgehalten ihm weh zu tun.

"Lass mich! Ich bring ihn um!"

Doch er hielt mich weiter fest. Wir waren Meter von der Haustüre entfernt. Mir kam es nicht real vor. Alles verging zu schnell. Woher war Carlo denn so plötzlich gekommen, warum hatte ich ihn nicht gesehen?

"Was ist hier los?"

"Du bist kein Umgang für Lina, das ist los und darum nimm ich sie mit. Ich lass nicht zu, dass du ihr ihr kleines Herz brichst."

Völlig verwirrt riss ich mich aus dem Griff von Carlo. Wer hatte Julian die Kontrolle über mein Leben gegeben?

"Wer sagt, dass ich ihr Herz brechen werde?"

Seine Haltung war kühl. Sein Tonfall ganz normal.

Naja, dass hattest du gesagt. Julian wusste davon allerdings nichts und stand deshalb für kurze Zeit versteinert da.
Carlo war glaubwürdig. Er konnte lügen, dass zeigte er mir damit ein weiteres Mal.

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