1 » "Hilferuf"

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»Du musst mir helfen, Julie. Ich kann mich doch in deiner Wohnung verstecken. Sie dürfen mich einfach nicht finden!«

Charly sank weinend auf den Küchenstuhl. Das Gesicht in die Hände gestützt.

Ich stand an die Spüle gelehnt und sah meine Schwester ebenso verzweifelt an, wie sie vorhin geklungen hatte. Schon so oft hatte ich ihr aus der Klemme geholfen, ihr Geld geliehen oder sie nachts aus irgendwelchen Casinos oder gar dunkeln Straßenecken geholt.

Ich stieß einen lauten Seufzer aus, denn ich liebte meine kleine Schwester wirklich über alles. Sie war meine beste Freundin und die einzige Person, der ich neben unserer Mutter wirklich vertraute, aber so langsam hatte ich keine Kraft und eigentlich auch keine Lust mehr dazu, ihr ständig zu helfen.

»Wann wirst du endlich erwachsen, Charly?«

Ich wollte hart, verärgert und böse zugleich klingen, aber irgendwie schaffte ich es wieder nicht. Bei ihr wurde ich weich. Es war beinah unmöglich für längere Zeit auf sie wütend zu sein. Das war eins ihrer vielen Talente, mit dem sie sich in ihrem Leben schon oft weitergeholfen hatte.

»Warum gehst du nicht ganz normal arbeiten, wie andere Menschen auch?«

»Ich bin nun mal nicht so schlau wie du!«, Charlys Worte klangen in erster Linie patzig, aber der verzweifelte Unterton entging mir nicht.

Eine Leuchte war sie in der Tat nie in der Schule gewesen. Während ich eine Klasse übersprungen hatte, drehte Charly eine Ehrenrunde und ging nicht einmal auf ein örtliches College. Stattdessen wechselte sie von einem Kellnerjob zum Nächsten. Das verdiente Geld wurde sogleich in Make-Up und Klamotten investiert.

Wieder seufzte ich schwer auf und ließ mich auf den Stuhl gegenüber von meiner Schwester fallen. Gegensätzlicher konnten wir kaum sein, sowohl vom Äußeren, als auch vom Wesen her. Charly war eine gute aussehende, echte Brünette, die ihre weibliche Figur bestens einzusetzen wusste. So war es ihr in den letzten drei Jahren auch gelungen, sich von einer Affäre in die Nächste zu stürzen und von den reichen Geschäftsmänner aus Vegas und den ganzen vereinten Staaten ausgehalten zu werden, bis sie schließlich einen von diesen Typen spontan geheiratet und wenige Monate wieder geschieden lassen hatte. So kam sie dann auch in die Kreise von Nobelcasinos, reichen Männern und natürlich auch den unzähligen Geldspielen.

»Um wie viel Geld geht es denn diesmal?«

Charly zuckte nur mit den Schultern.

»Charly, ich bitte dich. Du musst doch eine ungefähre Vorstellung haben.«, so langsam wurde ich wirklich ärgerlich und dagegen half ihr liebliches Gesicht nicht.

Das plötzlich ertönte Klingeln von Charlys Handy ließ diese so heftig zusammenzucken, dass sie beinah ihr Glas Wasser dabei umstieß. Ängstlich starrte sie das nicht verstummen zu wollende Telefon an.

»Sie werden mich überall finden und dann...«, wieder fing Charly an zu weinen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte das Handy auf zu klingeln, als ich aufstand und eine Kanne Tee kochte. Immer wieder sah ich zu ihr hinüber, aber sie kauerte nur regungslos auf dem Stuhl herum. Ich presste meine Lippen zusammen, als ich sie so sah. So ein Bild von ihr sah ich nicht zum ersten Mal, jedoch war es dieses Mal anders. Diese Mal schien sie wirklich tief in der Klemme zu stecken und ich war verdammt dafür, dass ich erneut Mitleid mit ihr hatte.

Als ich die Teetassen zum Tisch brachte, sah Charly verzweifelt auf. »Du musst mit ihm reden. Auf dich wird er bestimmt hören. Er soll ein intelligenter Mann sein und du bist eine intelligente Frau. Dich wird er anhören.«

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