Chapter 6

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Ironie des Schicksals!, dachte ich grimmig, immer noch die Treppen hinaufsteigend. Da wollte ich eigentlich Marvin, Josh und Dennis davor bewahren, in diese Welt verstrickt zu werden oder sogar zu sterben, und was geschah? Innerhalb einer Nacht steckte ich tintentief drinnen. Das konnte ja heiter werden.

„Was ist los?“, fragte das reiche Rattenmädchen. Sie war stehen geblieben und ich hatte es nicht bemerkt. Seufzend drehte ich mich um.

„Ich mache mir Sorgen“, gestand ich, unsicher, wie weit ich gehen durfte. Schließlich war es schon etwas länger her, dass ich die Geschichte gelesen hatte. „Ich habe einen guten Freund verloren.“

„Oh“, sagte das Mädchen leise und senkte den Kopf. „Das tut mir leid.“

Da seufzte ich nur leise und versuchte, einen weiteren Gedanken, der mir gerade gekommen war, aus dem Kopf zu wischen. Aber er blieb, wie ein unliebsamer Gast, der nicht mehr gehen wollte.

Ich bin die Leibwächterin. Das talentierteste und gleichzeitig gefürchtetste Straßenkind der ganzen Stadt. Obendrein eine hervorragende Kämpferin und in Wahrheit die unsportliche Nudel Nummer 1. Wie sollte ich das nur durchstehen?

Die Amme schlummerte auf einem Schaukelstuhl, aber ich war zu nervös, um sie wirklich zu beachten. Ständig hatte ich Angst, einer der vielen Hausbewohner könne uns hören, aber niemand erschien, als das reiche Mädchen eine große, knarrende Truhe nach passenden Kleidern für mich durchsuchte.

„Geht auch eine Hose?“, wisperte ich so leise, dass kaum ein Laut meinen Lippen entwich. Entschuldigend schüttelte das Mädchen den Kopf und reichte mir schließlich ein hübsches, jedoch unpraktisches Kleid. Jedoch musste ich gestehen, dass das wohl noch das praktischste von all den Kleidern war.

„So“, sagte das reiche Mädchen, nachdem sie auch noch ein Kleid für sich gefunden hatte. „Lass uns runter zum Fluss baden gehen. Wenn ich morgen früh nach Hause komme, sollte ich nicht nach Abwasser riechen.“

„Wohl war. Der Gestank ist kaum auszuhalten“, stimmte ich ihr zu und folgte ihr aus der Villa.

„Unten am Fluss“ bedeutete zehn Minuten Fußmarsch, bis wir zu einer Stelle, die breit und tief genug war, kamen.

„Du bist baden im Fluss ja gewohnt“, vermutete das reiche Mädchen und ich stimmte ihr zu.

„Wie heißt du?“, fragte ich, mit einer Zehe die Wassertemperatur testend. Sie war eigentlich ganz erträglich, nicht so eisig wie gedacht.

„Sophie. Ich wünschte, ich hätte einen richtig coolen Namen. Aber meine Eltern wollen ja, dass ich eine Lady werde.“ Sie verdrehte die Augen und stieg ohne zu zögern in den Fluss. Genau wie sie ließ ich meine Unterwäsche an, man wusste ja nie, wer vielleicht noch vorbei kam. Wenn die Verbrecher wieder auftauchten, wollte ich eigentlich in der Lage sein, die Flucht zu ergreifen.

„Ich heiße Dora. Nicht gerade ein gefährlicher Name, aber das hat nur Vorteile“, sagte ich.

„Ich dachte, du heißt anders.“ Erstaunt sah Sophie mich an. Keine Sekunde später ratterte mein Hirn auf Hochtouren und hatte in Nullkommanichts eine Ausrede parat.

„Manchmal den Namen zu wechseln ist sicherer“, erklärte ich.

„Und wie heißt du wirklich?“

„Ich habe keinen richtigen Namen. Mit vier Jahren habe ich mir den ersten ausgedacht. Davor hieß ich bei jedem anders.“ Ich zuckte mit den Schultern, um zu signalisieren, dass es mir egal war.

Dann beendeten wir das Bad, trockneten uns mit einem Leinentuch ab, das Sophie mitgebracht hatte, und schlüpften in die Kleider.

Meins war wesentlich bequemer als gedacht, es kratzte nicht mal, und es hatten sich auch keine Lebewesen darin eingenistet. Ehrlich gesagt, es übertraf in jeder Hinsicht meine Erwartungen.

Sophie hingegen sah wirklich aus wie eine kleine Prinzessin, die in sekundenschnelle gealtert war. Trotzdem wirkte sie immer noch kindlich und ihre funkelnden Augen nahmen dem Kleid seine Strenge.

Beinahe neidisch wandte ich mich ab.

„Besser, wir gehen“, meinte ich, gut wissend, dass es keinen Unterschied machen würde, ob wir versuchten, zurückzukommen oder nicht. In dieser Nacht würden die Verbrecher uns kriegen, so war es geschrieben und so würde es auch geschehen, wenn ich mich nicht total daneben benahm.

Zeit, die Zukunft dem Schicksal zu überlassen, dachte ich und lief mit wild pochendem Herzen los. Ich hatte Angst vor dem, was geschehen würde, und es fühlte sich gar nicht gut an, dem Schicksal machtlos in die Arme zu laufen. Vor allem wenn das Schicksal aus einem Haufen Verbrecher bestand, die uns nicht gerade freundlich gesinnt waren.

Das letzte Tor - Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt