Chapter 16

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„Sind sie weg?“, kam eine leise, verzagte Stimme aus der Truhe. Behutsam, als wäre sich der Sprecher nicht ganz sicher, öffnete sich der Deckel und vier Augen starrten über den Rand.

Nein. Es war kein vieräugiges Monster. Es waren Aron und Marvin.

Plötzlich schossen neue Lebensgeister durch meinen Körper und es war, als wäre ein riesiges Gewicht von mir abgefallen. Ehe ich wusste, was ich tat, war ich auf den Beinen und flog förmlich auf die Zwei zu. Beinahe stieß ich dabei mit Dennis zusammen, der ungeachtet seiner Gangsterrolle auf seinen Sohn zurannte und ihn gerade in die Arme schließen wollte, als ich Aron erreichte. Am liebsten hätte ich ihn gedrückt, ihn zerquetscht, so froh war ich, ihn wiederzusehen, aber Aron war noch mehr bei Verstand als Dennis und ich.

„Psst. Ich bin der böse Gangster!“, raunte er mir zu, und da dämmerte es mir auch wieder.

Ein verlegener Blick zu Dennis genügte, dann tauschten wir schnell die Plätze, und während er Aron umarmte, drückte ich Marvin so fest, dass er nach Luft rang.

„Ich bin so froh, dass ihr da seid“, flüsterte ich. Erschöpft sah ich auf und stellte fest, dass Marvin lächelte.

„Ich auch. Ich dachte schon, sie hätten euch gekriegt“, meinte er.

„Dasselbe dachte ich über euch“, murmelte ich und klammerte mich in Marvins T-Shirt. Trotzdem fiel es mir immer schwerer, auf den Beinen zu bleiben, und auch Marvin und Aron sahen todmüde aus.

Diese Nacht schliefen wir alle zusammen, aneinandergedrückt vor der leeren Feuerstelle, um uns zu wärmen. Irgendwann stand Dennis noch mal auf, machte ein Feuer und holte Decken, die wir unter uns legten. Das war gut, denn ich war bereits schwach vor Kälte, obwohl Sophie und Marvin mich gut von beiden Seiten gewärmt hatten.

Kurz darauf war ich wieder eingeschlafen, trotzdem ließ ich Arons Hand die ganze Nacht nicht los, aus Angst, er könne irgendwie verschwinden. Er lag hinter Marvin, der am Anfang misstrauisch guckte, als Aron einen Arm um ihn legte, dann jedoch grinste, als er sah, wie ich Arons Hand nahm.

„Wie putzig“, sagte Marvin und legte ebenfalls einen Arm um mich, bevor er einschlief.

Zum Glück machte es Sophie nichts aus, dass Dennis neben ihr lag. Im Gegenteil. Sie schien seine Wärme zu genießen und benutze seinen Arm als Kopfkissen.

Alles wäre perfekt gewesen, wäre Josh da. Aber er war nicht da. Und sicher schlief er nicht so warm und bequem wie wir.

Morgen holen wir ihn raus. Versprochen!, dachte ich nur noch, dann war ich eingeschlafen.

Am nächsten Morgen war mir warm, so angenehm warm, dass ich gar nicht aufstehen wollte. Mein Gesicht hatte ich in Marvins T-Shirt vergraben, froh über das Gefühl von Sicherheit, dass mir sein Geruch und Arons Hand gab. Hier fühlte ich mich wohl, während der aufziehende Morgen mit Kälte und Gefahr drohte.

Schließlich trieb mich der Hunger dann doch vom Schlaflager in die Küche, die immer noch aussah wie das Chaos höchstpersönlich.

„Gut geschlafen?“, fragte Dennis. Er lehnte an einer Wand, neben sich zwei Flaschen Milch und ein paar Eier, die er gerade anbriet.

„Ja. Wie lange habe ich geschlafen?“, wollte ich wissen und sog gierig den Geruch nach Rührei ein. Wie lecker es duftete! Das Wasser lief mir im Mund zusammen, aber da auch Dennis noch nichts aß, beherrschte ich mich.

„Gestern Nachmittag sind wir eingeschlafen und jetzt ist schon Morgen.“

„Oh“, sagte ich. Kein Wunder, dass mein Magen ein einziges, klaffendes Loch war, schließlich hatte ich einen ganzen Tag lang nichts gegessen. Wenn die anderen jedoch ebenfalls einen so großen Hunger hatten, waren Eier und Milch eine klägliche Mahlzeit.

„Haben wir nichts anderes mehr zu essen?“, fragte ich bekümmert und mein Magen unterstrich meine Sorgen mit einem lauten Knurren.

„Milch und Eier habe ich heute Morgen frisch geklaut.“ Dennis sagte das so, wie andere „gekauft“ sagen würden. „Besser, du holst noch ein Brot. Hier.“ Aus einer seiner Taschen fischte Dennis ein paar Münzen und reichte sie mir.

„Aber du hast doch auch nicht bezahlt!“, protestierte ich.

„Du wirst es trotzdem tun“, ordnete Dennis an und wandte sich wieder seinen Eiern zu. „Jetzt mach schon! Und geh nicht auf direktem Weg zur Fabrik zurück.“

Aron begleitete mich, band vorher jedoch zur Sicherheit Marvin und Sophie die Hände auf dem Rücken zusammen. Sonst wäre es für die beiden sicher ein Leichtes gewesen, Dennis zu überwältigen.

Als wir durch die weiten Hallen der alten Fabrik schlichen, waren wir ständig auf der Hut und hielten uns im Schatten, aber von den anderen Verbrechern war nichts zu sehen.

„Bestimmt hocken sie in ihrem Nest und halten ihr Verdauungsschläfchen, nachdem sie sich an unserm Essen gelabt haben!“, knurrte Aron, der trotzdem genauso erleichtert war wie ich, keinem der Männer zu begegnen.

„Was meinst du, sind das die richtigen Männer in Schwarz, die, die eigentlich Sophie kidnappen sollten?“, fragte ich, als wir in die kühle Morgenluft traten.

„Kann schon sein. Aber das macht wohl kaum einen Unterschied.“

„Doch“, sagte ich langsam. „Das könnte sich als Vorteil für uns erweisen.“

„Warum? Weil sie viele und gemein und gefährlich sind?“, fragte Aron kritisch.

„Nein. Aber wenn sie es sind, habe ich bereits eine Idee, wie wir Josh befreien können.“

Das letzte Tor - Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt