Chapter 22

662 25 5
                                    

Das Klappern in der Küche verstummte und plötzlich umhüllte uns eine unheimliche Stille.

„Psst. Vorsichtig“, warnte Dennis, verriegelte die Tür hinter uns und schlich los. Besorgt, einer unserer Nachbarn könne in unser Versteck gelangt sein, folgte ich ihm.

„Wenn das einer dieser elenden Verbrecher ist …“, murmelte Josh und griff sich einen Holzscheit. In diesem Moment kam der Eindringling aus der Küche getreten und sah uns mit vor Schreck geweiteten Augen an. Klein, graue Haare, Gehstock. Ich musste nicht zweimal überlegen, wen ich da vor mir hatte. Es war die Amme, der wir in Sophies Haus begegnet waren!

Was macht die denn hier?, fragte ich mich. Und warum verspüre ich bei ihrem Anblick ein seltsames Ziehen in der Brust?

„Ihr fiesen Verbrecher! Lasst sofort mein Mädchen gehen!“, rief die Amme mit erhobenem Stock und zog Sophie schützend zu sich.

Im wahrsten Sinne des Wortes hin und hergerissen stand Sophie da: Die Amme hatte ihren einen Arm gepackt, Josh ihren anderen.

„Dich kenne ich doch!“, klagte die alte Frau und zeigte mit dem Stock auf Josh. „Du bist der ungehobelte junge Mann, der mir den Mund zugehalten hat! Und du hast …“ Verlegen verstummte die Amme, kriegte sich jedoch schnell wieder ein und ließ ihren Blick finster über den Rest von uns streifen. An meinem Gesicht blieb ihr Blick hängen und plötzlich wurde ihre Stimme sanfter.

„Wer ist dieses Mädchen?“, wollte sie wissen. Diese Stimme … mein Herz begann schneller zu schlagen, während ich verzweifelt versuchte, Gesicht und Stimme einem Namen zuzuordnen. Aber es wollte mir nicht gelingen.

„Das geht dich nichts an, alte Frau!“, sagte Dennis, was ihm einen bitterbösen Blick einbrachte.

„Das ist Dora. Sie ist eine berühmte Leibwächterin“, erklärte Sophie.

„Dora …“ Die Amme starrte mich an, als traue sie ihren Augen nicht. „Das …“

„Hüte deine Zunge, alte Frau!“, fuhr Dennis dazwischen. „Fesselt Sophie draußen, dann reden wir ein ernstes Wörtchen mit ihrer lieben Amme.“

„Warum darf ich nicht dabei sein?“, schmollte Sophie.

„Weil ich es nicht mag, wenn die Gegenstände einer Erpressung ständig rufen: 'Nein, tu es nicht!´“, erklärte Dennis mit einem bösen Lächeln auf den Lippen und schob sie aus dem Besprechungsraum, in dem sich der Rest von uns versammelte.

Sophie wehrte sich und schimpfte am laufenden Band, aber nachdem es Dennis mit Joshs Hilfe gelungen war, sie zu fesseln, gab sie erschöpft Ruhe.

„Dora heißt du also?“, fragte die Amme. „Wenn du mir jetzt noch erzählst, der junge Mann neben dir heißt Aron, fresse ich einen Besen.“

„Besser nicht!“, lachte Aron. „Wir haben besseres Essen zu bieten.“

„Also tatsächlich!“ Ein breites Lächeln ließ das Gesicht der alten Frau erstrahlen und überrascht sah ich, wie viele Lachfalten sie hatte. Auch als Dennis und Josh wieder hereinkamen, ließ sich das Lächeln nicht von ihrem Gesicht wischen.

„Sag, erkennst du mich?“, fragte sie und ich war äußerst beschämt, sie nicht ganz zuordnen zu können. Es irritierte mich, dass jemand aus dieser Welt mich kannte. Noch verwunderlicher war jedoch, dass sie Aron ebenfalls kannte.

„Tut mir leid, wenn das jetzt dumm klingt“, sagte ich und nahm all meinen Mut zusammen. „Aber bist du meine … Oma?“

„Du hast mich erkannt! Dora, mein liebstes Bücherwurmmädchen!“ Voller Freude stand die Amme auf und breitete die Arme aus.

„Wie kann das sein?“, fragte ich verwirrt und streckte eine Hand nach ihr aus, wie um sicherzugehen, dass sie wirklich da war.

„Du bist seit so vielen Jahren in dieser Geschichte, warum bist du immer noch beim Anfang?“, wunderte ich mich. Da lächelte meine Oma weise.

„Das ist kompliziert, Dora. Ich bin überall in der Geschichte, wo ich mal war und wo ich sein werde. Sonst wäre die Geschichte ja an den meisten Stellen leer. Unsere Abbilder wandeln überall. Aber keine Sorge, ich verstehe es selbst nicht so genau.“

„Bist du jetzt nur dein Abbild?“, fragte ich verwirrt und nahm ihre Hände. Sie waren fest und real, warm und rau. Kein Geist oder Ähnliches.

„Wer weiß? Ich glaube, ich bin ich. Hier und jetzt. Genau wie du.“ Mit diesen Worten schloss sie mich in die Arme und plötzlich fühlte ich mich wieder klein. Ihr Geruch erinnerte mich an lange Abende, an denen ich auf ihrem Schoß gesessen hatte. An Abende, an denen sie mir eine Geschichte nach der anderen vorlas und mich mit in fremde Welten nahm. Jetzt waren wir wirklich in einer fremden Welt.

„Ach, und Aron ist so groß geworden!“, freute sich meine Oma, als sie mich wieder losließ. „Ich weiß noch, wie niedlich er im Kindergarten war.“

„Bitte. Keine peinlichen Details“, sagte Aron, konnte jedoch nicht verbergen, wie froh er war, sie wiederzusehen. Leise und glücklich lachend stupste er ihre Nase an, wie er es als kleiner Junge häufig getan hatte und meine Oma erwiderte den Gruß.

„Hach, was für ein herrliches Wiedersehen“, unterbrach Dennis uns. „Das finde ich ja furchtbar süß, aber ...“

„Und wer ist dieses ungezogene Bürschchen, dass ihr dabei habt?“, fragte meine Oma und deutete anklagend mit dem Stock auf Dennis.

„Hey! Ich bin der Boss!“, beschwerte er sich lachend. Dann stellte er sich doch noch vor, genau wie Marvin und Josh.

„Es gibt nur ein winzig kleines Problem. Du bist leider die Amme, die uns gerne im Knast und Sophie auf freiem Fuß sehen würde. Unnötig zu erwähnen, dass wir nicht im Knast enden wollen“, sagte Dennis zu meiner Oma. „Aber Sophie werden wir bald gehen lassen.“

„Und was ist mit mir?“

„Das ist das Problem. Wir werden dich wohl gefangen halten müssen“, erklärte Josh, was ihm einen langen, nachdenklichen Blick einbrachte.

„Und was, wenn ich das nicht will?“ Rebellisch sah meine Oma sich um, aber Dennis winkte bloß ab.

„Das ist nur natürlich. Trotzdem wird es wohl kaum etwas an deiner Lage ändern“, antwortete er.

„Wann ist eigentlich … unsere große Mission?“, fragte Aron.

„Große Mission?“, fragte Josh verwirrt, dann tippte er sich an die Nase und sagte: „Aaaah. Verstehe. Ich spreche mal kurz mit Sophie darüber.“

„Was hat sie damit zu tun?“, fragte meine Oma besorgt.

„Top Secret“, antwortete Josh und verschwand ins Nebenzimmer. Keine Minute später kam er zurückgestürzt und rief: „Schon in sechs Tagen! Und morgen … in einer Woche ist schon der Ball! Das ist gar nicht mehr so viel Zeit, wie man denkt!“

„Oh“, sagte Dennis und kratzte sich am Kopf. „Dann fangen wir wohl besser jetzt schon mit Tanzen Üben an.“

Das letzte Tor - Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt