Chapter 37

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Fiel. Durch die Schwärze. Fiel. Für ungefähr zwei Sekunden. Dann fing mich jemand auf.

„Lauf!“, zischte Josh. „Wir haben nicht viel Zeit!“

Am ganzen Körper zitternd kam ich auf die Beine, stolperte hinter Josh her, und verstand die Welt nicht mehr.

„Erinnerst du dich an die Brücken bei Sophies Haus?“, raunte Josh, aber als ich keine Antwort hervorbrachte, erklärte er weiter. „Solche gibt es hier auch. Sie münden alle auf diesen Balkon.“

„Das heißt“, brachte ich hervor. „Dennis und Sophie – das war alles nur gespielt?“

„Ja.“

„Aber ich hatte Todesangst!“

„Psst. Ich weiß. Tut mir leid, aber es ging nicht anders. Hier lang.“

„Was heißt hier: Es ging nicht anders? Ihr hättet einfach reinkommen und sie verprügeln können! Wir sind in der Überzahl!“

„Dora“, sagte Josh. „Wir sind zwar in der Überzahl, aber sie verprügeln Tag für Tag Leute. Wir nicht. Ich bezweifle, dass wir gewonnen hätten.“

„Du hast recht“, gestand ich und begann auf einmal ohne Grund hysterisch zu kichern.

„Hör auf zu lachen.“ Josh klang ernsthaft besorgt, schien jedoch nicht zu wissen, was er gegen meinen hysterischen Anfall tun sollte. „Hier lang. Das Fenster ist offen.“

Geschickt kletterte er hinein, ich folgte etwas zitterig und plumpse sofort auf den Fußboden.

„Autsch“, murmelte ich und begann wieder zu kichern. „Ich bin geflogen.“

„Hilfe, ich glaube, sie dreht gleich durch. Was tut man noch mal mit jemandem, der unter Schock steht?“, fragte Josh.

„Man passt auf, dass sie nicht in den Wald rennen“, meinte Marvin. „Das habe ich mal in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt. Soll ein häufig auftretendes Phänomen sein.“

„Gut, dass es hier keinen Wald gibt“, seufzte Josh, aber Aron schüttelte nur verständnislos den Kopf und kam zu mir herüber.

„Alles in Ordnung, Dora?“, wollte er wissen und kniete sich neben mich.

„Ich bin geflogen“, sagte ich erneut und musste wieder kichern. So alleine, hilflos und verängstigt hatte ich mich noch nie gefühlt, und wenn ich nicht vor Angst den Verstand verlieren und schreiend wegrennen wollte, musste ich eben lachen. Lachen und die Augen verschließen vor dem, was hätte passieren können.

„Du bist hier sicher“, beruhigte Aron mich, als wisse er genau, was in meinem Kopf vor sich ging. „Wir sind bei dir. Es kann dir nichts mehr passieren.“ Behutsam schloss er mich in die Arme und auf einmal kam das Gefühl von Sicherheit zurück. Mit einem erleichterten Seufzer drückte ich mich gegen ihn und versteckte meinen Kopf in seinem Hemd, als ob mich das schützen würde.

Josh und Marvin setzten sich neben uns und so warten wir, bis Dennis und Sophie hineingeschlichen kamen.

„Puh, das war knapp“, seufzte Dennis. „Alle da?“

„Ja“, antwortete Josh.

„Ist Dora ansprechbar?“, fragte Dennis und kam zu mir.

„Ich glaube, es geht ihr wieder besser“, meinte Aron. Langsam hob ich meinen Kopf aus seinem Hemd und sah Dennis an.

„Du bist gruselig“, sagte ich. „Für einen Moment dachte ich wirklich, du lässt mich sterben.“

„Niemals“, versprach Dennis mir und nahm mich in seine Arme. „Niemals würde ich zulassen, dass dir irgendwas passiert.“

Als ich die Kraft und Wärme seiner Umarmung spürte, war ich mir plötzlich sicher, dass er das konnte. Dass er mich wirklich vor allen Gefahren auf dieser Welt beschützen konnte.

Natürlich war Aufteilen nicht die optimale Lösung, wenn man bedachte, dass die anderen Gangster immer noch in diesem Haus rumrannten, aber es gab einfach zu viele Orte, an denen die Holzfigürchen sein könnten, um als große Gruppe zu suchen.

„Außerdem haben wir sie ja in dem Raum eingesperrt, und wenn wir Glück haben, brauchen sie ein Weilchen, um herauszufinden, dass es einen Balkon gibt“, sagte Dennis und klopfte uns ermutigend auf die Schultern. „Und wenn jemand die Verbrecher sieht, einfach rufen und wir kommen und schlagen ihnen doch noch die Köpfe ein.“

„Ich schlage vor, wir machen Zweiergruppen“, meinte Josh. „Am besten, jeder von uns nimmt einen unserer Gefangenen. Nicht, dass jemand auf die Idee kommt, doch noch einen Aufstand anzuzetteln.“

Stimmt ja, wir sind ihre Gefangenen!, fiel mir wieder ein, als ich Joshs Worte hörte. Das hatte ich bei all der Aufregung ganz vergessen.

„Gut“, stimmte Dennis Josh zu. „Dann kann Aron wieder Marvin nehmen, ich nehme Dora und du, Josh, nimmst Sophie. Wenn uns einer der Leute vom Ball sieht, können wir einfach sagen, wir waren nur kurz auf dem Klo. Deshalb gehen Josh und ich in die tieferen Stockwerke, während Aron und Marvin hier oben bleiben, OK? Ihr seid schließlich kein Tanzpaar“, erklärte er Aron und Marvin.

Ohne eine Zustimmung abzuwarten, eilte Dennis auch schon die Treppe hinunter, Josh neben sich.

„Na gut. Folgen wir ihnen“, sagte ich zu Sophie. Gemeinsam liefen wir hinter den beiden her, schweigend, bis Sophie sich nicht mehr beherrschen konnte.

„Läuft da was zwischen dir und Aron?“, wollte sie mit gedämpfter Stimme wissen und ließ sich extra ein Stück zurückfallen, damit Dennis und Josh ja nichts hören konnten.

„Quatsch!“, sagte ich überrascht. Zwischen uns lief wirklich nichts, deshalb war mir schleierhaft, wie Sophie auf diese Frage kam.

„Naja, als wir aus dem Keller kamen, bist du auf ihn zugerannt, und als ich mit Dennis gerade eben zurückgekommen bin, hattest du deinen Kopf in sein Hemd gedrückt, während Marvin einfach danebensaß. Außerdem habe ich gesehen, wie du nachts seine Hand gehalten hast.“

„Tjaaaa“, sagte ich, unsicher, wie ich ihr das erklären sollte. Schließlich konnte ich schlecht sagen, dass er seit ich denken konnte mein bester und lange auch mein einziger Freund gewesen war.

„Bevor er einer der Gangster geworden ist, waren wir mal beste Kumpels“, sagte ich also so überzeugend wie möglich.

„Ah. Keine harten Gefühle deswegen?“, wollte Sophie neugierig wissen.

„Eigentlich nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und schloss langsam wieder zu Dennis und Josh auf.

„Wie steht’s eigentlich um dich?“, fragte ich. „Schon verlobt?“

„Ja. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich weglaufen werde.“

„So schrecklich?“

„Noch viel schlimmer. Meine Eltern wollen mir nicht mal sagen, wer er ist.“

„Ähm, hier wären wir“, sagte Josh mit einem Räuspern, das eindeutig sagte: Ich habe euch gehört.

„Gut. Was heißt das?“, fragte Sophie.

„Das heißt, dass wir hier suchen, und dass Dennis und Dora noch ein Stockwerk tiefer gehen.“

Dennis nickte knapp, dann schnappte er sich meine Hand und lief nach unten.

„Wofür hältst du eigentlich meine Hand fest?“, fragte ich, als ich neben Dennis einen langen Korridor entlanglief.

„Falls uns jemand sieht. Das wirkt authentischer.“

„Jemand wie die da?“ Lächelnd deutete ich auf meine Oma, die am anderen Ende des Gangs lehnte und uns voller Vorfreude entgegensah.

„Ähm, zum Beispiel. Du hast doch mitbekommen, dass sie uns helfen wollte, oder?“

„Ja“, antwortete ich. „Gut, dass Sophie nicht da ist.“

„Das stimmt. Sie fände es sicher merkwürdig, wenn ihre Amme plötzlich mit den Verbrechern kooperiert.“

Das letzte Tor - Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt