Chapter 21

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Es wäre nicht wahrheitsgetreu zu sagen, dass das hellblaue Kleid wie angegossen saß. Oben war es zu eng und unten zu weit, wie alle Kleider, aber es war nicht so extrem weit und vor allem nicht so schwer.

Nicht schlecht, dachte ich und versuchte in der spiegelähnlichen Wand irgendetwas zu erkennen. Es war vergebens, also drehte ich mich um und sah an mir herunter. Selbst im Dämmerlicht schillerte der Bernstein leicht und das kräftige Hellblau passte gut zu den rötlichen Reflexionen, die bei jeder Bewegung über den Stoff huschten.

Ja, gefällt mir, dachte ich. Solange ich flach atme, werde ich es in diesem Kleid gut aushalten. Probehalber drehte ich mich ein paar Mal und probierte, wie weit ich meine Beine bewegen konnte. Das Ergebnis war zufriedenstellend.

Und es kratzt nicht mal!, dachte ich. Wie vorteilhaft.

Zufrieden warf ich noch einen Blick in den schlechten Spiegel und lächelte. Ich sah nicht so müde und ausgehungert aus wie sonst so oft. Schließlich ernährte nicht nur das Buch mich mit, ich hatte auch gut gegessen. Das war sicher das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine ausgewogene Ernährung hatte, zumal mir diese Geschichte aus irgendeinem Grund nicht zu reichen schien.

In einer Geschichte dürfte ich eigentlich keinen Hunger haben, schließlich bin ich ein Bücherwurm!, dachte ich mir, verschob das Problem jedoch auf später und trat aus der Kabine hervor.

„Da bist du ja. Das ging ziemlich schnell“, sagte ein Mann kühl und packte mich an den Schultern.

„Was soll das?“, beschwerte ich mich, als er mich im Kreis drehte und zufrieden auf mich herabsah.

„Das ist gut genug“, meinte er, ohne auf meine Frage einzugehen und schnappte das Preisschild. „Was kostet es denn?“

„Lassen Sie mich los!“, schrie ich aufgebracht und verwirrt. Was wollte dieser fremde Mann von mir?

Mit aller Kraft riss ich mich los und funkelte den Mann an.

„Halt die Klappe, du kleines Biest!“, fauchte er und wollte mich schon wieder packen, als Dennis mir zu Hilfe geeilt kam.

„Was machen Sie mit meinem Mädchen?“, fragte er und zog mich schützend an sich. Nun kamen auch Josh, Marvin und Aron dazu, selbst Sophie lugte über ihre Schultern.

„Das ist mein Mädchen“, sagte der Mann nun leicht verunsichert. Ich kannte ihn. Wenn ich nur sagen könnte, woher …

„Ah“, sagte der Mann langsam. Ihm schien etwas zu dämmern. „Werte Nachbarn. Welch eine Ehre, Euch hier zu treffen.“

„Ebenfalls“, entgegnete Dennis und schoss den weiteren Männern, die nun hereinkamen, finstere Blicke zu.

„Ah, die Herren kennen sich“, sagte der Ladenbesitzer gespielt fröhlich und schwebte zwischen uns. Offensichtlich hatte er gespürt, dass Feindschaft in der Luft lag, und wollte einen Streit verhindern.

„Ja, wir kennen uns. Entschuldigt das Missverständnis. Da ist unser Mädchen ja.“

In diesem Moment kam ein Mädchen, nicht viel älter als ich, aus der Nachbarkabine gehuscht. Auch sie trug ein hellblaues Kleid, aber am verwirrendsten waren ihre Augen. Blau, wie meine, aber wie eine Wand, die keine Gefühle preisgab, und ihre dunkelbraunen Haare verschleierten ihr Gesicht leicht. Unbestreitbar: Sie sah mir verblüffend ähnlich und jeder, der uns nicht schon lange kannte, konnte uns leicht verwechseln.

Aha, dachte ich. Kein Wunder, dass ich ihre Rolle so leicht übernehmen konnte. Nur, dass sie eindeutig sportlicher ist als ich.

„Dann ist das Missverständnis ja geklärt. Welch eine Überraschung“, säuselte Josh und wir zogen uns ins andere Ende des Ladens zurück.

Inzwischen hatten alle ihre Anzüge bzw. Kleider gefunden und wir widmeten uns den Schuhen.

Während Sophie keine großen Probleme damit hatte – sie war Absatzschuhe sicher schon gewohnt – und Marvin und Aron schnell aufhörten, über die viel zu langen Schuhe zu stolpern („Das sind eben Tanzschuhe. Das ist Mode“, erklärte der Ladenbesitzer), hatte ich mehr Probleme, auf den Beinen zu bleiben. Erst fiel ich ein paar Mal hin, dann hangelte ich mich an den Wänden entlang und Aron hatte einen riesigen Spaß daran, mich um die Kleiderständer herumzumanövrieren.

Aus der anderen Ecke des Ladens schossen unsere Verbrechernachbarn uns immer wieder finstere Blicke zu. Ihnen war durchaus klar, dass wir mit ihrem Geld bezahlten, bevor wir uns winkend aus dem Staub machten, aber sie machten sich keine Mühe, uns zu verfolgen. Wie hätte das auch auf offener Straße ausgesehen?

Auf dem Weg ins nächste Geschäft hielt ich Marvins Hand fest umklammert, um nicht hinzufallen. Ich wurde zwar besser, aber wirklich sicher war ich noch nicht, als wir einen Schmuckladen nach Ketten durchforsteten.

„Vorsichtig“, sagte Marvin und legte mir einen Arm um die Hüfte, als ich das dritte Mal beinahe hingefallen wäre. Von da an fiel ich nicht mehr, abgesehen davon, dass ich beinahe in Ohnmacht fiel vor Verlegenheit, als Aron mich verschwörerisch angrinste, raunte „Küss ihn!“ und verschwand, bevor ich zum Rachezug ausholen konnte. Leider war ich in diesen verdammten Absatzschuhen nicht schnell genug, um ihn einzuholen.

Sophie und ich bekamen eine hübsche Kette, während Dennis mit einer schlichten Silberkette davonkam.

Aron lief summend voraus, Sophie, der die Füße wehtaten, wurde von Josh getragen und ich lief rechts von Marvin und links von Dennis, den ich anflehte, mich ebenfalls zu tragen. Aber Dennis blieb unerweichlich und auch Marvin wollte nichts davon hören.

„Ich trage schon unser Geld. Diese Last ist groß genug“, meinte er. „Beiß die Zähne zusammen und steh’s durch. Leibwächterinnen sind harte Gesellen.“

„Pah!“, knurrte ich und lief schließlich einfach barfuß. Die elenden Schuhe trug ich in der Hand.

Bei der Fabrik angekommen nahmen wir den Hintereingang und huschten ungesehen zu unserem Versteck, aber was uns da erwartete, war keine gute Überraschung.

„Warum ist die Tür offen?“, fragte Dennis misstrauisch.

„Warum sind die Decken verwüstet?“, fragte Aron verwundert.

„Und was klappert da in der Küche?“, fragte Josh und trat mit finsterem Blick ein.

Das letzte Tor - Kein ZurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt