Ageloin

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Es ist nicht jedem Menschen bewusst, was hinter den roten Vorhängen passiert, wenn diese zugehen und der Beifall endet; welche düsteren Pläne geschmiedet, welche Intrigen gesponnen, welche Absurditäten provoziert und welche Aufstände angezettelt werden. Das Showbusiness ist ein lukratives Geschäft, aber kaum einer weiß, was wirklich geschieht, wenn die Kameras und großen Scheinwerfer letztlich aus sind. Und will man das auch wissen? Nein, so gut wie niemand hegt Interesse dafür. Zumindest fast niemand, denn ein winzig kleiner Teil der Bevölkerung ist wissbegierig, was dieses Geheimnis angeht. Für diese besondere Art von Mensch wäre Killswitch das perfekte Format gewesen, denn dieses machte den einen, kaum zu erlangenden Blick hinter die Kulissen erst möglich – und ließ dabei nichts unsichtbar.

Thomas Altmann war engagiert, fleißig, seinen Mitmenschen gegenüber wohlgesonnen, lebensfroh und zuvorkommend. Alles Charakteristika, die einen gut gesinnten Menschen ausmachen – einen angenehmen Zeitgenossen, mit dem man sich gerne unterhalten würde. Doch dann erlebte Thomas Killswitch, und alles änderte sich. Dinge waren nicht mehr so, wie sie einst waren; aus blindem Vertrauen wurde alles-hinterfragende Skepsis, aus gesunder Extrovertiertheit wurde radikale Isolation und aus allgegenwärtiger Freundlichkeit wurde tiefgehende Verachtung. Doch was war Killswitch, und was war es, das Thomas so in seinem Gemüt veränderte? Es ist eine lange Geschichte, die nun mittlerweile einige Jahre zurückreicht, doch die Zeit ist reif, sie der Allgemeinheit zu offerieren.

Es nahm seinen Anfang, als sich Thomas Altmann in seinem ihn einengenden Büro im Hauptsitz der Mediengruppe Ageloin in Frankfurt am Main befand. Fernsehberichte, Nachrichten, Diskussionsrunden, Talkshows, Reality-TV, Dokumentationen, Filme, Serien, Zeichentrick, Anime, Wetterberichte, Werbung – im Grunde hatte Ageloin alles zu bieten, was sich der gemeine Fernsehzuschauer erwartet, wenn er sich dazu entscheidet, den Apparat bei Zeiten einzuschalten und sich visuell unterhalten zu lassen. Vor allem aber die famosen Scripted-Reality Programme von Ageloin, der seinen gleichnamigen Hauptsender und zwei weitere Tochtersender betrieb, sorgten für gespaltene Meinungen unter der Bevölkerung. Die Laiendarsteller, die Drehbücher, die Effekte und die Kameras waren oftmals so miserabel, dass dem Sender unter anderem nachgeworfen wurde, nicht seriös genug zu sein und die Massen mit ihrem Nachmittagsprogramm zu verderben, zumal laut Statistiken eher Leute aus sozial unteren Schichten Ageloins Sender präferierten. Und auch der Geschäftsführer – ein schwindliger, gebürtiger Brite namens Arthur Divine, der seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschland lebte – geriet in harsche Kritik. Sein Ruf sei geschädigt, behauptete er abermals, und es müssen wieder originellere Skripte und Ideen her, um den negativen Status von Ageloin zu tilgen. Thomas war einer von den Leuten, die die Fähigkeit besaßen, aus den eintönigsten Drehbüchern und Dialogen den spannendsten TV-Beitrag zu kreieren, was mit einer der Gründe war, wieso Divine ihn auch angeheuert hatte. Zuvor war Thomas bei einem anderen Sender arrangiert und machte sich in der Szene einen Namen als fähiger Regisseur, der vor allem für sein Charisma, seine gute, galante Art und seinen Humor Bekanntheit erlangte. Der großgewachsene, schwarzhaarige, recht attraktive Brillen- und Drei-Tage-Bart-Träger war zu jenem Zeitpunkt einunddreißig Jahre alt und verdiente trotz einer gewissen Prominenz in der Szene und seinem Können vergleichsweise sehr wenig. Es reichte gerade mal für die Miete im Stadtloft, für die Ernährung, für die Unterhaltskosten, für all die Abgaben und für den gebrauchten Chevrolet, der ihn jeden Tag zur Arbeit beförderte. Divine hatte große Versprechen von sich gegeben – so sollte der Filmemacher laut ihm hohe Summen ernten, wenn er erst mal ein „großes Projekt" leiten würde. Doch hatte Divine irgendwelche Ideen, irgendwelche Ansätze, irgendwelche genialen Einfälle? Nein. Der Geschäftsführer war kein kreativer Mann mit einem Hang zur großartigen Fantasie. Im Gegenteil, die meisten Konzepte seiner Sendungen übernahm er von ausländischen Sendern, kopierte bereits bestehende Shows und adaptierte Filme, die er dann in oberflächliche Endlos-Serienformate umsetzte. Es war ergo kein wirkliches Wunder, dass der Kerl sich schnell unbeliebt machte, was in Folge auch seinem Geldbeutel nicht gut tat. Von einem vermögenden Mann konnte man bei dem dubiosen Geschäftsmann Divine nicht sprechen.

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